Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Werkstatt dicht, Stimmung sinkt
Für Menschen mit Behinderungen ist die Corona-Krise besonders schwer zu verstehen
RAVENSBURG - Für etwa 80 000 Menschen mit Behinderungen in Baden-Württemberg und Bayern steht der Alltag seit Beginn der CoronaKrise auf dem Kopf. Sie arbeiten normalerweise in Behindertenwerkstätten – doch die dürfen sie im Moment nicht betreten. Wer im betreuten Wohnen lebt, harrt stattdessen in seiner Wohngruppe aus. Das stellt viele auf eine Geduldsprobe – ebenso wie ihre Betreuer. Die haben oft Schwierigkeiten, ihren Klienten die Einschränkungen im Alltag begreiflich zu machen.
„Der Halt, die Struktur, die da war, ist weg“, sagt Sonja Gaißmaier vom Heggbacher Wohnverbund, der zur oberschwäbischen St. Elisabeth-Stiftung gehört. Gaißmaier arbeitet in Laupheim, sie ist zuständig für acht Häuser und Wohngruppen im Kreis Biberach und im Alb-Donau-Kreis, in denen 160 Menschen mit Behinderung leben. Viele arbeiten in Werkstätten. Andere, die stärkere Einschränkungen haben, besuchen spezielle Förderangebote, Ältere den Seniorentreff. Sie alle sitzen jetzt in ihren Wohngruppen – und viele langweilen sich. Das hat Folgen, sagt Gaißmaier. „Manche reagieren mit leichten Depressionen, manche mit Aggressionen gegen sich oder andere, es herrscht ganz schlechte Laune.“
Die Betreuer steuern dagegen: Sport, Singen, Basteln – alles in Kleingruppen und nur mit Bewohnern aus dem gleichen Haus. Für Gäste gilt ein Besuchsverbot. Einfach mal rausgehen, das geht auch nicht mehr. „Spaziergänge draußen sind nur noch einzeln möglich, und nur in Begleitung eines Betreuers“, sagt Gaißmaiers Kollegin Carmen Lang, die im Laupheimer Haus Antonius drei Wohngruppen betreut.
Womöglich ist selbst das bald nicht mehr möglich. In Baden-Württemberg hält Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) eine Ausgangssperre für Heime denkbar. Er appelliere an alle Träger, eine maximale Ausgangsbeschränkung durchzuhalten. Sollte das über den appellativen Charakter nicht funktionieren, sei man derzeit auch in Vorbereitung, das über einen Erlass zu regeln, teilte Lucha am Donnerstag mit. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) unterstrich, dass man Heime besonders im Blick haben müsse. „Hier leben Menschen, die besonders anfällig für Infektionen sind, die müssen wir besonders schützen“, sagte die Kanzlerin ebenfalls am Donnerstag nach einer Telefonkonferenz mit den
Ministerpräsidenten. Dass die Sorgen begründet sind, zeigte sich jetzt beim Diakonie-Unternehmen Mariaberg in Gammertingen (Landkreis Sigmaringen). An drei Standorten wurden dort knapp 50 Menschen positiv auf das Coronavirus getestet. Die meisten von ihnen zeigen nach Angaben eines Sprechers einen leichten Krankheitsverlauf. Man habe nun aber verstärkt mit Personalengpässen zu kämpfen – und mit einem Mangel an Schutzmaterial für die Mitarbeiter.
Letzteres Problem existiert flächendeckend. Man fühle sich zwar vonseiten der Kostenträger und Heimaufsichten gut unterstützt, sagt etwa Uwe Fischer, Geschäftsführer der Behindertenhilfe bei den Zieglerschen in Wilhelmsdorf (Landkreis Ravensburg). „Bei der Versorgung mit Schutzausrüstung haben wir jedoch Sorge, dass unsere Einrichtungen hinten runterfallen könnten.“Man wisse zwar, dass Bestände überall knapp seien. „Aber wenn es am Ende nur für die Krankenhäuser reicht und in unseren Einrichtungen nichts ankommt, wo viele Menschen aus der Risikogruppe zusammenleben, wäre das dramatisch.“Man habe kürzlich erst 7000 Schutzmasken bestellt – geliefert wurden 800.
Für die Einrichtungen kommt noch ein anderes Problem dazu. Die Behindertenwerkstätten sind auch Wirtschaftsunternehmen. Sie haben Aufträge auf dem freien Markt, die erfüllt werden müssen – auch wenn die Behinderten nicht mehr in die Werkstatt dürfen. So produzieren die Zieglerschen beispielsweise LEDLeuchten für Supermärkte und Ausstechformen für Plätzchen, berichtet Olaf Sigmund, der dort den Bereich Arbeit leitet. Nun müssten Kollegen in der Werkstatt aushelfen, deren eigentliche Arbeit gerade nicht stattfindet, weil sie etwa für die Tagesbetreuung in der Altenpflege zuständig sind oder für Förderangebote für Schwerbehinderte.
Auch anderswo wird improvisiert. Der Paritätische Wohlfahrtsverband in der Region BodenseeOberschwaben berichtet von mehreren Einrichtungen, in denen das Fachpersonal für die Werkstatt-Beschäftigten einspringt – so etwa in den inklusiven Lebensmittelmärkten „CAP-Markt“in Weingarten und Baindt (Landkreis Ravensburg) und auch in der Wäscherei des Gemeindepsychiatrischen
Zentrums in Überlingen (Bodenseekreis). „Unsere Wäscherei beliefert Überlinger Pflegeheime. Deshalb stellen wir jetzt den Wäschereibetrieb sicher“, sagt Geschäftsführer Ingo Kannengießer. „Unsere Buchhalterin legt die Wäsche zusammen, der Koch liefert die Wäsche aus und ich selbst stehe an der Wäschemangel.“
Diejenigen, die die Arbeit in den Werkstätten normalerweise erledigen, sitzen derweil daheim – und wissen oft nicht warum. „Unsere Bewohner verstehen nicht, was gerade los ist“, sagt Sonja Gaißmaier vom Heggbacher Wohnverbund in Laupheim. „Es ist schwierig zu vermitteln, warum es nun diese neuen Regeln gibt. Man muss das in einfacher Sprache erklären.“Und Sandro Ferdani, der bei den Zieglerschen in Wilhelmsdorf als Bereichsleiter für mehr als 500 Menschen im betreuten Wohnen zuständig ist, berichtet von Hilfsmitteln, mit denen er und seine Kollegen mit Sprachbehinderten kommunizieren. „Wir arbeiten mit Bildern und Symbolen, um den Menschen begreiflich zu machen was wir wollen“, sagt Ferdani. „Solche Bildmaterialien gibt es auch für Corona.“