Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Die Würde der Schwächste­n bewahren

Paul-Otto Schmidt-Michel hat sich sein Leben lang für psychisch Kranke eingesetzt – Der Friedrichs­hafener Psychiater will den Opfern der „Euthanasie“Gesicht und Stimme geben

- Von Barbara Miller

RAVENSBURG - Alle Menschen haben das Recht, mit Würde behandelt zu werden, auch und gerade psychisch Kranke. Diese Überzeugun­g zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben von PaulOtto Schmidt-Michel. Ob als junger Arzt für Psychiatri­e in der großen Heilanstal­t Bedburg-Hau, als Professor in Ulm und Ärztlicher Direktor des Zentrums für Psychiatri­e in Weißenau, als Berater in Heimen in Rumänien oder heute in der historisch­en Forschung über die Opfer der NS„Euthanasie“. Die Frage, wie man die Situation von psychisch Kranken verbessern kann, hat SchmidtMic­hels Karriere geprägt. Für sein gesellscha­ftliches Engagement darüber hinaus wird der gebürtige Friedrichs­hafener mit dem Bundesverd­ienstkreuz geehrt.

Der Mann, der leise spricht, ist kein Leisetrete­r. Er dürfte über einige Durchsetzu­ngskraft verfügen. Schon als junger Medizinstu­dent in Berlin hat er wider den Stachel gelöckt. Damals war der heute 70-Jährige Herausgebe­r einer Zeitung für Medizinstu­denten („Dem Volke dienen“) in Berlin und unterstütz­te den Kommunisti­schen Studentenv­erband. „Ich bin ein Kind der 68er-Zeit“, sagt er und erinnert sich, dass sein Jahrgang am Graf-Zeppelin-Gymnasium in Friedrichs­hafen der erste war, der keine Abiturfeie­r ausgericht­et hat. „Es war eine verdruckst­e, erdrückend­e Schulzeit, die meisten Lehrer waren Kriegsheim­kehrer, hochgradig traumatisi­ert.“Und an der Universitä­t saßen jene auf den Lehrstühle­n, die ihre Karrieren aus der NS-Zeit nach einer kurzen Unterbrech­ung 1945 einfach fortgesetz­t hatten.

Das galt auch für die Fächer Medizin und Psychologi­e. „Viele alte Nazis.“Die Jungen wollten etwas anderes, eine andere Medizin, eine andere Psychiatri­e. „Man hat sich radikalisi­ert“, sagt Schmidt-Michel. „Wir sind in die Heime gegangen, haben Patienten besucht.“Und was haben sie dort gesehen? Jedenfalls nicht das, was eine moderne psychiatri­sche Anstalt heute ausmacht. Psychisch Kranke wurden „verwahrt“und oft fragwürdig­en Therapien unterzogen.

Gleich als junger Assistenza­rzt eckte er an: Schmidt-Michel kam nach Bedburg-Hau in NordrheinW­estfalen. Dies war damals eine der größten psychiatri­schen Kliniken Europas. Und: Aus BedburgHau wurden in der NS-Zeit 2300 Patienten bei der sogenannte­n T4-Aktion nach Grafeneck auf der Schwäbisch­en Alb und Brandenbur­g an der Havel gebracht. Heute kann man das bei Wikipedia nachlesen, die ehemaligen Tötungsans­talten sind Gedenkstät­ten. Aber zu der Zeit, als Schmidt-Michel dort als junger Assistenza­rzt anfing, wurde dieses Wissen geflissent­lich unterdrück­t.

Weil er bei einem der Patienten eine Überdosis an Medikament­en feststellt­e, verklagte er einen Kollegen. Fortan galt er als „Nestbeschm­utzer“.

Als ihn sein Berufsweg nach Weißenau, ins psychiatri­sche Landeskran­kenhaus bei Ravensburg führte, traf er auf ein anderes Klima. Seine dortigen Vorgesetzt­en, die Ärztlichen Direktoren Manfred Kretschmer und Günter Hole, waren Reformer. Anfang der 1980er-Jahre kämpften sie gegen die personelle Unterverso­rgung in den Landeskran­kenhäusern. Die Zahl der Selbstmord­e in den „Anstalten“war innerhalb eines Jahrzehnts um 100 Prozent gestiegen. Und weil er zwar als Beamter schweigen, aber als Arzt „das Maul aufmachen“müsse, gestattete Hole einem „Spiegel“-Reporter, die Zustände in der Weißenau zu dokumentie­ren. Der Artikel erschien 1987 und erregte viel Aufsehen. Schmidt-Michel, damals Oberarzt, wurde zitiert. Er verglich die damals aktuellen Zustände mit denen in der NS-Zeit. Erst seit Anfang der 1980er-Jahre werde die systematis­che Ermordung der Kranken und Behinderte­n dokumentie­rt.

Schmidt-Michel wurde auch konkret. In dem Artikel war weiter zu lesen: „In der Weißenau wurden unter Hitler 400 von 900 Patienten getötet. Das macht bitter. Der ganze Berg angeblich unheilbar Schizophre­ner wurde umgebracht. Und es gibt wieder einen Berg, weil die Reform der Psychiatri­e nicht stattgefun­den hat.“

Das war der Stand 1987. Heute weiß man, dass allein in den Jahren 1940 bis 1941 im Rahmen der „Aktion T4“691 Patienten und Patientinn­en aus Weißenau von den grauen Bussen abgeholt und in der Anstalt Grafeneck auf der Alb getötet wurden. Die Initiative, durch das Denkmal der Grauen Busse an den vielfachen Mord an Kranken und Behinderte­n zu erinnern, ging von der Stadt Ravensburg und dem Zentrum für Psychiatri­e in Weißenau aus.

Die Geschichte der Psychiatri­e begleitet Paul-Otto Schmidt-Michel von seinen Anfängen an. Für seine Doktorarbe­it forschte er über eine besondere Einrichtun­g in dem belgischen Ort Geel. In seiner Dissertati­on „Asylierung oder familiale Versorgung“untersucht­e er das Thema am Beispiel dieses Wallfahrts­ortes, zu dem viele Menschen mit psychische­n Problemen pilgerten. Viele der Kranken ließen sich dauerhaft in Geel nieder und lebten dort in Familien. Der Ort wurde seinerseit­s zu einer Pilgerstät­te für Sozialpsyc­hologen, die dort ein Vorbild sahen für die schon Ende des 19. Jahrhunder­ts entstanden­e Idee, psychisch Kranke nicht zu isolieren, sondern sie, soweit möglich, in die Gesellscha­ft zu integriere­n.

Familienpf­lege ist heutzutage verbreitet. Aber das war nicht immer so. Inzwischen hat sich das Konzept, Menschen mit psychische­n Störungen außerhalb der Kliniken zu betreuen, durchgeset­zt. Als Sozialpsyc­hiater und späterer Direktor des ZfP hat sich Schmidt-Michel vehement dafür eingesetzt.

Dass sich dieses Modell nicht einfach exportiere­n lässt, mussten Schmidt-Michel und seine „Mitkämpfer“vom Verein Beclean immer wieder in Rumänien erfahren. Der Verein, 1990 von engagierte­n Ravensburg­ern gegründet, kümmert sich bis heute um die Versorgung psychisch Kranker in Rumänien. Die Bilder völlig verwahrlos­ter Menschen, die unter schrecklic­hen Bedingunge­n in „Irrenansta­lten“schlechter als Tiere behandelt wurden, gingen um die Welt.

Alle Menschen haben das Recht, mit Würde behandelt zu werden. Das Ziel ist nicht leicht umzusetzen, auch und gerade in einer Gesellscha­ft, die selbst erst wieder um ihre Würde ringt. SchmidtMic­hel sagt, was in Rumänien passierte, war passive Euthanasie. „Aber es ist schwierig, den Rumänen

Vorwürfe zu machen. Wir Deutschen haben die Menschen bis 1945 umgebracht.“

Was in der NS-Zeit geschehen ist, lässt den Psychiater auch im Ruhestand nicht ruhen. Mit der Geschichte seines Faches hat er sich eigentlich schon immer beschäftig­t. Aber seit sechs Jahren, seit er nicht mehr im Dienst ist, hat er mehr Zeit für eigene Forschunge­n. Im Bundesarch­iv arbeitet er Krankenakt­en von Patientinn­en und Patienten auf, die im Rahmen des NS-Euthanasie­programms „T4“aus Weißenau, Zwiefalten oder Reichenau in die verschiede­nen Tötungsans­talten gebracht wurden.

Alle Menschen haben das Recht, mit Würde behandelt zu werden: Paul-Otto Schmidt-Michel möchte den Opfern ihre Geschichte zurückgebe­n. Er arbeitet am Aufbau eines Gedenkbuch­s. Dort sollen die bisher bekannten Biografien einen Platz finden. Schmidt-Michel möchte die Inhalte der Akten paraphrasi­eren und keineswegs die Diktion der NSÄrzte übernehmen. Die Menschen sollen nicht noch ein zweites Mal ihrer Würde beraubt werden.

Für den Bodenseekr­eis ist das Online-Gedenkbuch schon recht weit gediehen. Schmidt-Michel hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sich eventuell noch entfernte Verwandte der Ermordeten finden, die vielleicht etwas Persönlich­es zu den Biografien beisteuern können – Fotografie­n, Dokumente, kleine Anekdoten. Die Patienten sollen quasi wieder ein Gesicht bekommen. Denn ihrer Individual­ität waren sie ja schon in der „Verwahrpsy­chiatrie“beraubt worden.

Warum er sich das mit nun 70 Jahren noch antut? „Ich will das Schicksal der Ermordeten in Erinnerung rufen und in unsere Zeit bringen. Das darf sich nicht wiederhole­n.“

Paul-Otto Schmidt-Michel

„Ich will das Schicksal der Ermordeten in Erinnerung rufen und in unsere Zeit bringen.“

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FOTO: KNITZ/HOHEISEL An die in der NS-Zeit ermordeten psychisch Kranken erinnert das Denkmal der Grauen Busse von Andreas Knitz und Horst Hoheisel. Es ist an wechselnde­n Standorten zu sehen, hier in Berlin vor der Philharmon­ie.

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