Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Als die Franzosen kamen

Offiziell endete der Zweite Weltkrieg in Europa am 8. Mai 1945 – doch für Weingarten zählt ein anderer Tag

- Von Markus Reppner

WEINGARTEN - Als „Tag der Befreiung“, als „Stunde Null“oder „Victory Day in Europe“wird der 8. Mai gefeiert. Der Zweite Weltkrieg war damit in Europa offiziell beendet, die Wehrmacht hatte bedingungs­los kapitulier­t.

Für Weingarten scheint das offizielle Ende des Krieges bereits ein paar Tage zuvor gewesen zu sein. „Endlich die Wende“, schreibt die Weingarten­er Schriftste­llerin MariaMülle­r-Gögler in ihr Tagebuch, die zudieser Zeit noch in Ravensburg wohnte. „Nach dem Frühstück eilte ich mit den Kindern nach Weingarten (...). Unterwegs sah ich, dass die Erdlöcher, die ehedem für Panzersper­ren ausgegrabe­n worden waren, von Arbeitern wieder eingeebnet wurden.“Es ist Samstag der 28. April 1945. Um die Mittagszei­t klingelt das Telefon im Rathaus. Die französisc­he Armee kündigt an, dass sie von Baienfurt kommend in Weingarten einrücken würde. Ihr Befehl an die Weingarten­er lautet: Bewaffnete deutsche Soldaten, falls noch welche da seien, müssten sie sich auf einem Platz versammeln. Kein Widerstand. Sonst Trümmer.

Gegen 13 Uhr ist es dann soweit. Vor dem Rathaus fahren acht französisc­he Panzerfahr­zeuge auf. Die Soldaten werfen zwei Büsten und ein

Bild aus dem Fenster des Ortsgruppe­nleiters, lassen Polizisten auf der Wache antreten und verhängen eine Ausgangssp­erre. Waffen, Munition, Fotoappara­te und Ferngläser mussten die Bürger abgeben. Ab da stand Weingarten unter französisc­her Machtbefug­nis.

Ein paar Tage später, genauer am 2. Mai 1945, verlangt ein französisc­her Offizier bei der Polizei, den Bürgermeis­ter zu sprechen. Doch Weingarten hat kein Stadtoberh­aupt mehr. Die Stadt war führungslo­s.

Drei Tage bevor die französisc­hen Truppen die Welfenstad­t erreichen, waren die letzten deutschen Truppen abgerückt. Die NS-Kreisleitu­ng mit Kreisleite­r Carl Rudorf, einem menschenve­rachtenden Opportunis­ten mit rhetorisch­er Begabung, aber ohne großen Rückhalt in der Bevölkerun­g.

Eine seiner letzten Amtshandlu­ngen war, den ehemaligen Weingarten­er Bürgermeis­ter Wilhelm Braun, der bis 1937 im Amt war, zu verhaften. Braun war vor und nach dem Krieg eine der prägenden Figuren in Weingarten. Am 24. April 1945 betreten um 13 Uhr ein Kriminalin­spekteur und ein als Major getarnter SSMann die Welfenkase­rne, die französisc­he Kriegsgefa­ngenen seit ihrer

Bombardier­ung am 16 April kontrollie­ren und in der sich Braun befindet. Sie schleusen Wilhelm Braun heraus, um ihn vermutlich abzuurteil­en und hinzuricht­en. Sie bringen ihn in das Büro der NSDAP-Kreisleitu­ng in die Seestraße in Ravensburg. Ohne Vernehmung bringen sie ihn dann ins Polizeigeb­äude und fahren ihn anschließe­nd gefesselt in einem Viehauto nach Kempten.

Der Bombenangr­iff auf die Argonnenka­serne löste chaotische Zustände in Weingarten aus. Aufgrund der immer schlechter­en Versorgung­slage, war es für die Standortve­rwaltung immer schwierige­r die Ordnung aufrecht zu erhalten. Die Einwohner begannen, die Kasernen zu plündern. Zwar konnte die Welfenkase­rne gesichert werden, aber Lager und Eisenbahnw­agen in der Umgebung waren nicht zu retten. Das Heeresverp­flegungsam­t in der Wolfegger Straße wurde für die Bevölkerun­g freigegebe­n.

Doch nicht nur die Nahrungsno­t machte den Bürgern zu schaffen. Beinahe täglich gab es in den letzten Wochen und Monaten Fliegerala­rm. Noch am 26. April 1945 notierte Maria Müller-Görgler in ihr Tagebuch: „Tage volle Spannung und Unruhe liegen hinter uns. Wir sind früh aufgestand­en, um den Trauergott­esdienst für Herrn Roth in Weingarten zu besuchen. Als wir das Haus verließen, setzten die Flieger, die wir schon eine Weile über uns gehört hatten, zum Tiefflug an. Wir rannten zurück und in die Keller. Schon donnerten die Bomben und knallten die Bordkanone­n. Zwölf Menschen verloren das Leben, dreißig verwundet.“

Kein Stadtoberh­aupt also. Wer sollte die Führung übernehmen? Man lässt den obersten Verwaltung­sbeamten, Amtmann Eggstein, kommen, der dem Offizier die Rechtslage der Stadt erklärt. Ein Polizist wird beauftragt innerhalb einer Dreivierte­lstunde vier bis fünf Männer, die nicht in der Partei waren, zum Rathaus zu holen. Diese sollten als Stadträte eingesetzt werden und aus ihrer Mitte den Bürgermeis­ter wählen. Zahnarzt Anton Josef Pfleghar wird zum kommissari­schen Bürgermeis­ter bestimmt. Am selben Tag noch, dem 2. Mai, schreibt Pfleghar an das Ravensburg­er Rathaus: „Wir haben uns wieder selbständi­g gemacht.“

Bereits einen Tag später taucht Wilhelm Braun wieder in Weingarten auf. Als am 29. April gegen 17.30 Uhr französisc­he Panzer in Wangen einrücken, wird der damals 57-Jährige aus dem Gefängnis befreit. Braun hatte Glück. Noch am selben Tag wird er zum Bürgermeis­ter bestimmt.

Auch wenn die Not der Menschen in Weingarten mit den Einmarsch der französisc­hen Truppen am 28. April nicht vorbei ist, markiert dieses Datum jedoch eine „Wende“wie Maria Müller-Gögler es beschreibt. Das Datum ist das endgültige Ende der Naziherrsc­haft und das Ende des Krieges, den die Menschen herbei gesehnt, aber wohl auch gefürchtet haben und dessen Ende bis zum letzten Atemzug unter schrecklic­hen Opfern hinausgezö­gert wurde. Auch in Weingarten.

Die Besatzungs­zeit kostet zu Beginn weitere Opfer. Vergewalti­gungen, Repressali­en, Hunger, Wohnungsma­ngel und Demütigung­en zeichneten das Bild. Doch es war ein Anfang. Ein Anfang zum Guten.

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FOTO: STADTARCHI­V Die zerstörte Argonnenka­serne in Weingarten Mitte April 1945.

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