Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Rührende Geschichte zum Weltkriegsende
Ein Baienfurter erzählt von seinen Erlebnissen und einem Traum, der an Telepathie erinnert
BAIENFURT (sz) - Der Zweite Weltkrieg hat Familien getrennt und unfassbares Leid über die Menschen gebracht. Doch es gab auch rührende Geschichten, wie die der Familie von Jürgen Seils aus Baienfurt. Er hat für die „Schwäbische Zeitung“einen Teil seiner Familiengeschichte zum Jubiläum 75 Jahre Kriegsende aufgeschrieben, die in Großkemnat bei Kaufbeuren beginnt und er mit dem Titel „Telepathie unserer Eltern unter Nachkriegseinwirkungen“überschrieben hat:
Die Wochen und Monate nach dem 8. Mai 1945, dem Ende des Krieges, waren für Deutsche keine normale Zeit. Wie viele Familien sahen auch wir uns in unerwarteter Lebenslage: aus Berlin auf den Einödhof im Allgäu eingewiesen, Kostgänger für die Jörgs: Vater Wilhelm und seine Frau Johanna mit ihren Kindern. Nicht einmal Miete mussten wir zahlen, eine Familie mit drei Kindern (6, 5 und 3 Jahre), das vierte unterwegs. Es war wie Frieden bei dieser großartigen Familie. Ein erstes Foto zeigt uns mit einem echten Leder-Fußball auf der Wiese.
In diesen Frieden griff am 13. Mai, einem Sonntag, ein Befehl der US-amerikanischen Besatzer ein. Alle deutschen Männer hatten sich „bis morgen“auf dem Fliegerhorst in Kaufbeuren
„zur endgültigen Entnazifizierung“einzufinden. Unsere Mutter wusste das Datum ihr Leben lang. Unser Vater ahnte Schlimmes. So ließ er Ehering und Uhr bei seiner Frau und stellte sich. Das war für lange Zeit das Letzte, was wir als Familie von ihm sahen oder hörten.
Der Vater kam in Gefangenschaft, die Ehefrau schwanger, mit den Kindern untergebracht bei fremden Leuten, ohne Mittel, dafür mit Gottvertrauen, wie unsere Mutter während ihres langen Lebens immer wieder betonte. Aus Berlin stammend konnte sie keine Hilfe auf dem Feld anbieten, stattdessen aber die Küche und die Wohnung vorbereiten für den Abend, wenn die Gastgeber von der Arbeit heimkamen. Das hatten die Jörgs so nie gehabt. Bald schon diente diese Arbeitsteilung der Erholung der Bauern und dem harmonischen Zusammenleben auf dem Hof. Eine großartige Zeit!
Eine Schwangerschaft hat ihren Termin. Den wusste man zu dieser Zeit natürlich weniger präzise als heute. Am Montag, den 6. August 1945, stand ich, damals fast sechs Jahre alt, nachmittags vor dem Haus. Ich schaute hoch in den hellen Himmel, weil ein Flugzeug hörbar tief über das Anwesen geflogen kam, über mir an Höhe verlor, etwa 300 Meter vom Haus entfernt abstürzte und in Flammen aufging! An diesem Nachmittag drängte unsere Mutter den Hausherrn Jörg: „Bitte fahren Sie mich nach Kaufbeuren in die Klinik. Das Kind kommt!“Er spannte an und fuhr Frau Seils mit der Kutsche in die drei Kilometer entfernte Stadt. Es kann dieser Schreck über einen Flugzeugabsturz in unmittelbarer Nähe gewesen sein, dass sich der neue Erdenbürger plötzlich meldete. Oder es war einfach sein Termin.
Ein weiteres Geheimnis um die Geburt unseres Brüderchens Werner am 7. August 1945 entdeckten wir, als unser Vater im Januar 1946 aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause kam. Er hatte auf Toilettenpapier mit wertvollem Bleistiftstummel ein „Tagebuch eines Gefangenen“geführt. Dort zeigte er uns den Eintrag vom 7. August 1945: „Heute Nacht geträumt: Margot hat einen Sohn geboren.“Die Eltern hatten seit Mai keinen Kontakt gehabt. Die Mutter erfuhr erst im November 1945, wo ihr Mann geblieben war, weil entlassene Kameraden ihr diese Information mit einem Gruß nach Hause brachten. Er war damals in ein Lager nach Heilbronn verlegt worden. Es war wohl die innige Verbindung der Eheleute mit der Sorge umeinander, die sich in dieser deutlichen Wahrnehmung niederschlug, aus der Kurt Seils seinen Tagebucheintrag machte.
Dieses damals geborene Kind trug wesentlich dazu bei, dass das Zusammenleben auf dem Einödhof so problemlos und freundlich verlief, auch wenn die älteren Kinder die Nerven der Bauernfamilie zeitweise strapazierten. Nicht im Tagebuch notiert fanden wir die Katastrophe von Hiroshima vom 6. August. Damals erklärte die Mutter uns nur: „Da fiel eine schreckliche Bombe, die schon hoch oben explodiert und alles verbrennt.“Das war’s. Denn ihr fehlte der Ehemann, und sie hatte für ein neues Leben in ihrem Arm zu sorgen. Das zählte.