Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wenn das Leben in einen Transporter passt
Alltag Zwangsräumung: Ein Gerichtsvollzieher aus der Region berichtet
BIBERACH - Ein Leben passt in einen Transporter. Das beweist der beladene Lieferwagen, der an einem sonnigen Vormittag in einem Biberacher Wohngebiet steht. Der Grund: eine Zwangsräumung. Mit dabei ist Obergerichtsvollzieher Andreas Diem. Als einer von fünf Gerichtsvollziehern am Biberacher Amtsgericht ist er zuständig für dieses letzte Mittel der Zwangsvollstreckung. Rund zwanzig solcher Maßnahmen leitet er im Jahr für das Amtsgericht Biberach. Dieses Mal der Grund: Die Mieterin zahlt seit mehr als einem halben Jahr keine Miete.
Vor der Wohnung stehen sieben Möbelpacker und die beiden Gläubiger, das Vermieter-Ehepaar. Sie warten. Auch der ein oder andere Nachbar schaut schon aus dem Fenster zu.
Die Mieterin ist nicht da. Dafür aber ihr erwachsener Sohn. Er lebt in einem anderen Land in Europa, ist wegen seiner Mutter angereist. Bereitwillig öffnet er die Tür und erklärt, seine Mutter habe einen Arzttermin. Doch das zählt nicht als Ausrede. Die ältere Frau verliert trotzdem ihre Wohnung. Auf der Straße leben müsse in Deutschland aber niemand, erklärt Diem. Die Frau lebt von
Hartz IV. Auf sie wartet ein möbliertes Zimmer in einer Notunterkunft.
Ob sie dieses Angebot annimmt, ist ungewiss. „Viele tauchen unter. Da weiß man gar nicht, wo die hin sind“, erklärt Diem. Möglicherweise aus Angst vor Stigmatisierung. Einen Job zu finden, sei schwer, sobald man die Adresse einer Obdachlosenunterkunft angebe, sagt der 42-jährige Gerichtsvollzieher. „Viele berappeln sich von so etwas nicht mehr.“
Mitleid habe er dennoch nicht. „Ich habe eher Mitleid mit den Gläubigern, die dadurch selbst zu Schuldnern werden können.“Außerdem werde die Räumung rechtzeitig angekündigt, sagt Diem. Die Mieter könnten davor noch freiwillig ausziehen. „Die Zwangsräumung ist die letzte Instanz der Zwangsvollstreckung“, sagt der Gerichtsvollzieher. Das Problem: „Oft machen die Leute ihre Briefe nicht mehr auf und wissen deswegen gar nichts“, sagt er. Zwangsgeräumt werde trotzdem. „Die kommen dann abends heim und der Schlüssel passt nicht mehr ins Schloss“, meint er.
Auch bei dieser Zwangsräumung tauscht der Vermieter das Türschloss. Diem und die Möbelpacker betreten währenddessen die Wohnung. Sie wirkt nicht sonderlich aufgeräumt. Zwei trockene Blumensträuße stehen auf einer Kommode. Im Wohnzimmer eine Vitrine mit Teeservice. Ein Fliesentisch, darauf Papier, Stopftabak und eine offene Bierdose. Die Tapeten wirken alt, die Möbel verlebt.
„Der Schuldner darf nur mitnehmen, was er tragen kann“, erklärt der Gerichtsvollzieher. Alles andere räumen die Möbelpacker in Kartons und lagern es für zwei Monate ein. Das ist die gesetzliche Frist. Wenn der Schuldner es in diesem Zeitraum nicht abholt, wird es vernichtet.
In den Müll wandert im Übrigen schon bei der Zwangsräumung so einiges. Pflanzen, Lebensmittel, Abfall.
Für Diem sind solche Zwangsräumungen Tagesgeschäft: „Ich war lange am Amtsgericht Stuttgart. Da war das an der Tagesordnung“, meint er. Rund 250 Zwangsräumungen habe er schon mitgemacht, schätzt Diem. Entsprechend routiniert geht er vor, spricht ruhig mit allen Beteiligten. „Das muss ablaufen wie ein Umzug“, erklärt er. Der Schuldner müsse sich denken können: „Mensch, das läuft alles geregelt ab.“Die Räumung dieser Biberacher
Wohnung sei überschaubar. Schlimmer sei es etwa, wenn Kinder mitansehen müssten, wie ihr Kinderzimmer geräumt werde, sagt der 42-Jährige. Es gebe aber noch ganz andere Fälle. Zum Beispiel Gehöfte, bei denen die Räumung wochenlang dauere, sagt Diem. Dass Bewohner dabei Widerstand leisten, passiere selten.
Bundesweit gab es im Jahr 2018 insgesamt 54 010 Zwangsräumungen. In Baden-Württemberg waren es 5707. Die Leitung solcher Zwangsräumungen ist aber nur ein Teil der Arbeit als Gerichtsvollzieher. Meist arbeitet Diem im Büro, wird auf Antrag eines Gläubigers tätig, prüft Akten, vollstreckt dessen Forderungen. „Wenn ein Schuldner sich verschließt, dann prüft der Gerichtsvollzieher, ob die Forderungen des Gläubigers gerechtfertigt sind“, erklärt Diem. Dabei stehe er nicht automatisch auf der Seite des Gläubigers, sondern berücksichtige als Vermittler die Interessen und Rechte beider Parteien. „Ich helfe dem Schuldner ja auch und prüfe die Forderungen. Zum Beispiel, ob sie zu hoch angesetzt sind.“Auf Antrag des Gläubigers muss der Schuldner dem Gerichtsvollzieher einen Offenbarungseid leisten. Also sagen, wie viel Einkommen und Vermögen er hat. Wenn der Schuldner keine Auskunft über seine finanzielle Situation geben will, kann der Gerichtsvollzieher das abfragen lassen. Etwa Konten beim Bundeszentralamt für Steuern, auf sie zugelassenene Autos beim Kraftfahrtbundesamt, den Arbeitgeber bei der Deutschen Rentenversicherung oder das Vermögensverzeichnis des Schuldners beim Zentralen Vollstreckungsgericht.
Wenn der Schuldner trotz eines Gerichtsurteils nicht zahlt, sind Gläubiger also auf Gerichtsvollzieher angewiesen, um an ihr Geld zu kommen. Immer öfter habe er dabei auch mit älteren Menschen zu tun, sagt Diem. „Es gibt in den vergangenen Jahren eine massive Erhöhung der Zwangsräumungen bei älteren Menschen“, sagt er. Zwar habe die Politik im Landkreis das Thema Altersarmut schon bemerkt, passiert sei aber noch wenig. „Das ist ein massives Problem, das auf uns zukommt“, sagt Diem. Es habe bereits 2015 im Landkreis einen runden Tisch zum Thema Obdachlosigkeit älterer Personen nach Zwangsräumung
gegeben. Das ist laut Diem im Zuge der Flüchtlingskrise aber fallen gelassen worden.
Ununterbrochen schleppen derweil die Möbelpacker Karton um Karton aus der Wohnung. Besitztümer kommen in Umzugskartons, Müll in Plastiksäcke. Zahlen muss dafür das Vermieter-Ehepaar. Zwar erklärt Diem, die Kosten dafür seien 30 Jahre vollstreckbar. Doch der Vermieter winkt ab: „Sie arbeitet nicht, was willst du da holen?“Dass es zur Räumung kommt, hätte das Ehepaar am liebsten abgewendet. Die Gläubigerin meint aber: „Wir gehen nicht arbeiten, um andere mitzufinanzieren.“So eine Zwangsräumung kenne sie bisher nur aus Fernsehsendungen, sagt sie. Doch der finanzielle Schaden ist für die Vermieter real.
Weit über 10 000 Euro werde sie die Sache am Ende kosten, schätzt der 48-jährige Vermieter. Er habe lange genug Mitleid gehabt. „Ich habe angeboten, ihr zu helfen. Die Mieterin hat sich aber nicht gerührt“, sagt der Mann. Deshalb habe es irgendwann gereicht. „Wir mussten irgendwo den Schlussstrich ziehen. Das ist ja kein Spaß hier“, sagt seine 45-jährige Frau. Auch der Sohn der Schuldnerin wendet sich an das Vermieter-Ehepaar und sagt in ruhigem Ton: „Das tut mir leid.“