Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Beschuldigter kommt unter Auflagen frei
Landgericht: Täter wollte mit Messerangriff seine Einweisung in die Psychiatrie verhindern
WEINGARTEN - Seit mehr als 20 Jahren hatte ein unter einer Schizophrenie und psychotischen Zwangsvorstellungen leidender 42-jähriger Mann aus Weingarten dank einer guten medikamentösen Einstellung gefahrlos für sich und andere gelebt. Doch als er im Herbst 2019 in einer manischen Phase seine Medikamente drastisch reduzierte und ihn sein betagter Vater mithilfe zweier Polizeibeamter in die Psychiatrie einweisen lassen wollte, drehte er durch. Einer der Polizeibeamten entging dabei mit knapper Not mindestens zwei heftig ausgeführten Messerstichen, die auf seinen Hals gezielt hatten.
Bereits im Jahr 1998 hatte sein Vater den Beschuldigten unter einem Vorwand ins Zentrum für Psychiatrie (ZfP) in Weißenau gebracht, wo er über einen Zeitraum von mehreren Wochen wieder so weit stabilisiert werden konnte, dass der junge Mann in der Lage war, anschließend zwei unterschiedliche Berufsausbildungen zu absolvieren.
Auf dem Arbeitsmarkt konnte er aber nicht dauerhaft Fuß fassen. Auch ein Informatikstudium musste er nach einem Semester beenden. Weil ihm seine Eltern eine kleine Eigentumswohnung zur Verfügung stellten, gelang ihm trotz geringem Einkommen ein relativ eigenständiges Leben. Aber er verfiel nach und nach in eine Spielsucht, die ihn ständig in Geldnöte trieb. Er ließ sich zwar für die Spielhallen im Schussental sperren. Doch Glücksspielautomaten in Gaststätten und entsprechende Angebote im Internet waren zu verlockend für ihn.
Das führte vor allem im Verlauf des vergangenen Jahres zunehmend zu Konflikten mit den Eltern, die er regelmäßig um Geld anbettelte. Der Vater wusste sich schließlich im November 2019 nicht anders zu helfen, als den Hausarzt um eine Einweisung in die Psychiatrie zu bitten. Er hatte erlebt, wie sein Sohn sich immer tiefer in Wahnvorstellungen verstrickte und häufig in einem Schrebergarten übernachtete.
Zunächst schien die Einweisung problemlos zu laufen: Vater und Hausarzt
holten den Patienten morgens in seiner Wohnung ab. Bis zum Eintreffen des Krankenwagens wollte man gemeinsam in einer Bäckerei in der Unteren Breite frühstücken. Gern erfüllten ihm Vater und Hausarzt den Wunsch, in der Heilig-Geist-Kirche ein kurzes Gebet zu verrichten. Doch danach schnappte sich der Patient die Einweisungspapiere und rannte in Richtung Innenstadt davon.
Der Hausarzt stellte nach Rücksprache mit dem ZfP neue Einweisungspapiere aus und riet dem Vater, den Sohn mit polizeilicher Unterstützung am nächsten Tag abzuholen. Zwei Beamte begleiteten ihn zur Wohnung des Sohns, der aber niemanden in die Wohnung ließ. Er versprach mitzukommen, wollte sich aber noch eine Jacke und Schuhe anziehen. Heimlich versteckte er in seinem linken Jackenärmel ein spitzes Jagdmesser mit einer zehn Zentimeter langen Klinge und ging damit unvermittelt auf den älteren der beiden Beamten los. „Ich will unter keinen Umständen wieder in die Psychiatrie. Lieber gehe ich in den Knast“, gab er bei einer späteren richterlichen Vernehmung an.
Dabei versicherte er, dass er nur mit dem Messer drohen wollte. Doch wenn sich der Polizist nicht geistesgegenwärtig weggeduckt und den Angriff mit dem Arm abgewehrt hätte, wäre er nach eigener Einschätzung und der seines Kollegen hart getroffen worden. Der jüngere Kollege stürzte sich sofort auf den Angreifer. Beide kullerten im Gerangel mehrere Stufen einer schmalen Steintreppe hinunter. Dabei verletzte sich der Polizist so schwer an der Schulter, dass er später operiert werden musste und bis vor Kurzem dienstunfähig war. Gleich danach entschuldigte sich der Angreifer vielmals für sein rabiates Handeln, versuchte aber weiterhin wegzurennen. Aber er konnte schließlich überwältigt und nach Weißenau gebracht werden.
Der psychiatrische Gutachter Jürgen Eckardt, der ihn im Anschluss zeitweise ärztlich behandelt hatte, attestierte dem Beschuldigten eine schizophrene psychotische Störung, die schon in jungen Jahren bei ihm festgestellt worden war. Zum Zeitpunkt der Tat sei er schuldunfähig gewesen. Nach der ersten stationären Behandlung habe sich der Zustand des Beschuldigten stark gebessert. Es habe zwar immer wieder depressive Phasen gegeben. Aber über mehr als 20 Jahre sei kein stationärer Aufenthalt nötig gewesen, um eine Gefährdung für sich oder andere abzuwenden. Auch jetzt führte die medikamentöse Behandlung zu einem guten Erfolg. Die betreffenden Spritzen könnten dem Patienten aber auch ambulant verabreicht werden.
Unter der Voraussetzung, dass das Gericht eine engmaschige medizinische Betreuung durch ambulante Einrichtungen und den psychiatrischen Dienst des ZfP anordnet und der bereits bestellte Betreuer regelmäßig zur Stelle ist, könne der Patient auch jetzt aus der stationären Behandlung entlassen werden. Noch im Gerichtssaal entband der Beschuldigte alle Mediziner und Betreuungseinrichtungen von ihrer Schweigepflicht, damit sie sich umgehend gegenseitig informieren können, wenn etwas aus dem Ruder läuft.
Das versetzte das Gericht unter dem Vorsitz von Veiko Böhm in die Lage, die gerichtliche Einweisung in die Psychiatrie auf fünf Jahre zur Bewährung auszusetzen, wie es Oberstaatsanwalt Karl-Josef Diehl und der Verteidiger übereinstimmend beantragt hatten. Richter Böhm ermahnte in seiner Urteilsbegründung den Beschuldigten eindringlich, sich penibel an die Bewährungsauflagen zu halten: „Wir entlassen Sie zwar jetzt in die Freiheit, aber bei Ihrer schweren psychischen Erkrankung werden Sie nie ein normales Leben führen können.“Es werde auch regelmäßige Besuche eines Bewährungshelfers geben.
Da der Beschuldigte wieder in seine alte Wohnung zurückkehren und dort ambulant betreut werden kann, seien gute Voraussetzungen gegeben für einen positiven Krankheitsverlauf. Er wird, sobald es die Corona-Krise erlaubt, in einer Werkstätte für psychisch Erkrankte eine geregelte Arbeit aufnehmen – in der Hoffnung, später auch wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Sichtlich beeindruckt vernahm er aus dem Mund des Richters, dass für ihn der Knast keine gute Alternative zur Psychiatrie gewesen wäre: „Bei diesem Tathergang sind Sie ganz knapp an der Anklage des versuchten Mordes vorbeigekommen. Und das hätte im Fall einer Verurteilung eine Haftstrafe im zweistelligen Bereich bedeutet.“
Das jetzt ergangene Urteil ist rechtskräftig, da weder Staatsanwalt noch Verteidiger Rechtsmittel einlegen.