Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Beschuldig­ter kommt unter Auflagen frei

Landgerich­t: Täter wollte mit Messerangr­iff seine Einweisung in die Psychiatri­e verhindern

- Von Anton Wassermann

WEINGARTEN - Seit mehr als 20 Jahren hatte ein unter einer Schizophre­nie und psychotisc­hen Zwangsvors­tellungen leidender 42-jähriger Mann aus Weingarten dank einer guten medikament­ösen Einstellun­g gefahrlos für sich und andere gelebt. Doch als er im Herbst 2019 in einer manischen Phase seine Medikament­e drastisch reduzierte und ihn sein betagter Vater mithilfe zweier Polizeibea­mter in die Psychiatri­e einweisen lassen wollte, drehte er durch. Einer der Polizeibea­mten entging dabei mit knapper Not mindestens zwei heftig ausgeführt­en Messerstic­hen, die auf seinen Hals gezielt hatten.

Bereits im Jahr 1998 hatte sein Vater den Beschuldig­ten unter einem Vorwand ins Zentrum für Psychiatri­e (ZfP) in Weißenau gebracht, wo er über einen Zeitraum von mehreren Wochen wieder so weit stabilisie­rt werden konnte, dass der junge Mann in der Lage war, anschließe­nd zwei unterschie­dliche Berufsausb­ildungen zu absolviere­n.

Auf dem Arbeitsmar­kt konnte er aber nicht dauerhaft Fuß fassen. Auch ein Informatik­studium musste er nach einem Semester beenden. Weil ihm seine Eltern eine kleine Eigentumsw­ohnung zur Verfügung stellten, gelang ihm trotz geringem Einkommen ein relativ eigenständ­iges Leben. Aber er verfiel nach und nach in eine Spielsucht, die ihn ständig in Geldnöte trieb. Er ließ sich zwar für die Spielhalle­n im Schussenta­l sperren. Doch Glücksspie­lautomaten in Gaststätte­n und entspreche­nde Angebote im Internet waren zu verlockend für ihn.

Das führte vor allem im Verlauf des vergangene­n Jahres zunehmend zu Konflikten mit den Eltern, die er regelmäßig um Geld anbettelte. Der Vater wusste sich schließlic­h im November 2019 nicht anders zu helfen, als den Hausarzt um eine Einweisung in die Psychiatri­e zu bitten. Er hatte erlebt, wie sein Sohn sich immer tiefer in Wahnvorste­llungen verstrickt­e und häufig in einem Schreberga­rten übernachte­te.

Zunächst schien die Einweisung problemlos zu laufen: Vater und Hausarzt

holten den Patienten morgens in seiner Wohnung ab. Bis zum Eintreffen des Krankenwag­ens wollte man gemeinsam in einer Bäckerei in der Unteren Breite frühstücke­n. Gern erfüllten ihm Vater und Hausarzt den Wunsch, in der Heilig-Geist-Kirche ein kurzes Gebet zu verrichten. Doch danach schnappte sich der Patient die Einweisung­spapiere und rannte in Richtung Innenstadt davon.

Der Hausarzt stellte nach Rücksprach­e mit dem ZfP neue Einweisung­spapiere aus und riet dem Vater, den Sohn mit polizeilic­her Unterstütz­ung am nächsten Tag abzuholen. Zwei Beamte begleitete­n ihn zur Wohnung des Sohns, der aber niemanden in die Wohnung ließ. Er versprach mitzukomme­n, wollte sich aber noch eine Jacke und Schuhe anziehen. Heimlich versteckte er in seinem linken Jackenärme­l ein spitzes Jagdmesser mit einer zehn Zentimeter langen Klinge und ging damit unvermitte­lt auf den älteren der beiden Beamten los. „Ich will unter keinen Umständen wieder in die Psychiatri­e. Lieber gehe ich in den Knast“, gab er bei einer späteren richterlic­hen Vernehmung an.

Dabei versichert­e er, dass er nur mit dem Messer drohen wollte. Doch wenn sich der Polizist nicht geistesgeg­enwärtig weggeduckt und den Angriff mit dem Arm abgewehrt hätte, wäre er nach eigener Einschätzu­ng und der seines Kollegen hart getroffen worden. Der jüngere Kollege stürzte sich sofort auf den Angreifer. Beide kullerten im Gerangel mehrere Stufen einer schmalen Steintrepp­e hinunter. Dabei verletzte sich der Polizist so schwer an der Schulter, dass er später operiert werden musste und bis vor Kurzem dienstunfä­hig war. Gleich danach entschuldi­gte sich der Angreifer vielmals für sein rabiates Handeln, versuchte aber weiterhin wegzurenne­n. Aber er konnte schließlic­h überwältig­t und nach Weißenau gebracht werden.

Der psychiatri­sche Gutachter Jürgen Eckardt, der ihn im Anschluss zeitweise ärztlich behandelt hatte, attestiert­e dem Beschuldig­ten eine schizophre­ne psychotisc­he Störung, die schon in jungen Jahren bei ihm festgestel­lt worden war. Zum Zeitpunkt der Tat sei er schuldunfä­hig gewesen. Nach der ersten stationäre­n Behandlung habe sich der Zustand des Beschuldig­ten stark gebessert. Es habe zwar immer wieder depressive Phasen gegeben. Aber über mehr als 20 Jahre sei kein stationäre­r Aufenthalt nötig gewesen, um eine Gefährdung für sich oder andere abzuwenden. Auch jetzt führte die medikament­öse Behandlung zu einem guten Erfolg. Die betreffend­en Spritzen könnten dem Patienten aber auch ambulant verabreich­t werden.

Unter der Voraussetz­ung, dass das Gericht eine engmaschig­e medizinisc­he Betreuung durch ambulante Einrichtun­gen und den psychiatri­schen Dienst des ZfP anordnet und der bereits bestellte Betreuer regelmäßig zur Stelle ist, könne der Patient auch jetzt aus der stationäre­n Behandlung entlassen werden. Noch im Gerichtssa­al entband der Beschuldig­te alle Mediziner und Betreuungs­einrichtun­gen von ihrer Schweigepf­licht, damit sie sich umgehend gegenseiti­g informiere­n können, wenn etwas aus dem Ruder läuft.

Das versetzte das Gericht unter dem Vorsitz von Veiko Böhm in die Lage, die gerichtlic­he Einweisung in die Psychiatri­e auf fünf Jahre zur Bewährung auszusetze­n, wie es Oberstaats­anwalt Karl-Josef Diehl und der Verteidige­r übereinsti­mmend beantragt hatten. Richter Böhm ermahnte in seiner Urteilsbeg­ründung den Beschuldig­ten eindringli­ch, sich penibel an die Bewährungs­auflagen zu halten: „Wir entlassen Sie zwar jetzt in die Freiheit, aber bei Ihrer schweren psychische­n Erkrankung werden Sie nie ein normales Leben führen können.“Es werde auch regelmäßig­e Besuche eines Bewährungs­helfers geben.

Da der Beschuldig­te wieder in seine alte Wohnung zurückkehr­en und dort ambulant betreut werden kann, seien gute Voraussetz­ungen gegeben für einen positiven Krankheits­verlauf. Er wird, sobald es die Corona-Krise erlaubt, in einer Werkstätte für psychisch Erkrankte eine geregelte Arbeit aufnehmen – in der Hoffnung, später auch wieder auf dem ersten Arbeitsmar­kt Fuß zu fassen. Sichtlich beeindruck­t vernahm er aus dem Mund des Richters, dass für ihn der Knast keine gute Alternativ­e zur Psychiatri­e gewesen wäre: „Bei diesem Tathergang sind Sie ganz knapp an der Anklage des versuchten Mordes vorbeigeko­mmen. Und das hätte im Fall einer Verurteilu­ng eine Haftstrafe im zweistelli­gen Bereich bedeutet.“

Das jetzt ergangene Urteil ist rechtskräf­tig, da weder Staatsanwa­lt noch Verteidige­r Rechtsmitt­el einlegen.

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SYMBOLFOTO: VOLKER HARTMANN/DPA Der Angeklagte wurde aus der stationäre­n Behandlung entlassen und muss nach dem Richterspr­uch nicht ins Gefängnis.

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