Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wenn Retter nicht helfen dürfen
In Corona-Krise sind Vorgaben für Sanitäter ausgesetzt – Rechtslage bleibt unsicher
STUTTGART - Sie wollen helfen, dürfen aber nicht: Trotz guter Ausbildung können Notfallsanitäter ihre Patienten nur begrenzt versorgen. Laut Gesetz müssen sie auf den Notarzt warten, etwa, bevor sie ein Schmerzmittel spritzen oder Gegenmittel gegen einen allergischen Schock. Während der Corona-Pandemie sind die Vorgaben nun ausgesetzt. Damit das so bleibt, fordert die FDP mehr Initiative vom Land – und empfiehlt einen Blick nach Bayern.
Knapp 200 Mitarbeiter hat Daniel Groß, Landesvize des Arbeitersamariterbunds (ASB), in der Notfallrettung im Einsatz. „Meine Leute sollen handeln können, bis der Notarzt eintrifft. Ich lehne es absolut ab, dass gut ausgebildete Notfallsanitäter daneben sitzen müssen, wenn ein Kind vor Schmerzen schreit“, sagt Groß. Doch wenn seine Mitarbeiter so handeln, riskieren sie eine Anklage. Rein rechtlich dürfen sie es nicht – nur im absoluten Ausnahmefall. Das sieht der sogenannte Heilkundevorbehalt vor. Es erlaubt nur Ärzten, Patienten zu behandeln. Ansonsten drohen sogar Gefängnisstrafen.
Obwohl die Sanitäter Fertigkeiten wie die Verabreichung von Schmerzmitteln in ihrer Ausbildung lernen, dürfen sie diese nur in Anwesenheit des Arztes anwenden. Und damit sind sie im doppelten Dilemma: Denn qua Gesetz sind sie verpflichtet, in einer Notlage im Rahmen ihrer Kenntnisse zu helfen. Tun sie es nicht, droht ebenfalls eine Strafverfolgung. Helfen oder nicht – beides kann am Ende rechtliche Konsequenzen für die Sanitäter haben.
Seit Langem monieren Rettungsdienste dieses Problem. BadenWürttemberg und zwei andere Länder haben versucht, Änderungen im Bund durchzusetzen, bislang ohne Erfolg. Fachärzte wie die Gesellschaft der Unfallmediziner lehnen „die eigenständige Durchführung von invasiven Maßnahmen durch Notfallsanitäter ab“. Eine dreijährige Ausbildung ersetze nicht die Kompetenz eines Mediziners. Der Staat müsse ausreichend Notärzte einsetzen, um jeden rechtzeitig zu versorgen.
2019 besuchte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) das Deutsche Rote Kreuz (DRK) in Biberach. Damals gaben ihm die Retter den Wunsch mit auf den Weg, die entsprechenden Gesetze zu ändern. „Seitdem hat sich aber nichts geändert“, sagt Michael Mutschler, Chef des DRK-Rettungsdienstes im Kreis Biberach heute. „Wir wollen und können Notärzte gar nicht ersetzen. Aber wir wollen die therapiefreie Zeit für den Patienten bis zum Eintreffen des Arztes verkürzen.“
Dass die Bundesregierung Sanitätern dies durchaus zutraut, zeigt sich seit Beginn der Corona-Pandemie. Man fürchtete zunächst, Ärzte könnten knapp werden. Um sie zu entlasten, dürfen Sanitäter während der Pandemie viel mehr als zuvor. Doch weil im Südwesten derzeit zum Glück kein Mangel an Medizinern herrscht, nutzen weder ASB noch das DRK Biberach die Möglichkeiten aus, zu unsicher ist die Rechtslage auch weiterhin.
Die FDP im Stuttgarter Landtag wollte nun von Innenminister Thomas Strobl (CDU) wissen, ob das so bleibt. Die Antwort fällt ernüchternd aus: sehr wahrscheinlich nicht. „Diese Kompetenzerteilung endet aber mit der Aufhebung der epidemischen Lage von nationalem Ausmaß durch den Bundestag, spätestens zum 1. April 2021“, heißt es aus dem Innenministerium. Dabei sieht auch Strobl die Probleme und hält den
Kurs des Bundesministeriums in dieser Sache für falsch: „Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter werden dem Risiko strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt. Diese Situation ist ihnen nicht zumutbar“, schreiben seine Beamten. Das Land selbst sei aber für die Regeln nicht zuständig.
FDP-Innenexperte Ulrich Goll sieht zwar ebenfalls vor allem die Bundesregierung in der Pflicht. Er erwartet aber von Strobl mehr Engagement. „Auch die Passivität der Landesregierung ist den Notfallsanitätern nicht zumutbar“. So sei es mit gesundem Menschenverstand nicht nachvollziehbar, wieso Notfallsanitäter während der Corona-Pandemie Menschen behandeln dürfen, danach aber nicht mehr. „Die Landesregierung muss sich jetzt dringend dafür einsetzen, dass heilkundliche Maßnahmen durch Notfallsanitäter auch nach der Epidemie vorgenommen werden dürfen.“
Goll verweist auf das Beispiel Bayerns. Seit dem 1. Dezember dürfen dort Sanitäter etwas mehr als im Südwesten. Der dortige Ärztliche Leiter Rettungsdienst hat eine Checkliste erarbeitet, in der er Sanitätern
bestimmte Behandlungen erlaubt. Diese so genannte Vorabdelegation ist rechtlich möglich, auch wenn sie den Helfern bei Weitem nicht alles erlaubt, was sie qua Ausbildung könnten. „Innenminister Strobl hat aber erkennbar keine Eile, diese Möglichkeit bei uns umzusetzen. Herr Strobl bewegt sich in diesem Punkt in einem ‚Schneckentempo‘. Das ist weder im Sinne der Notfallsanitäter noch der Patienten“, moniert Goll.
Das DRK im Land wünscht sich dasselbe: „Da in Bayern eine andere Rechtsgrundlage im Rettungsdienst gegeben ist, lässt sich das Modell nicht 1:1 auf Baden-Württemberg übertragen. Eine Autorisierung der Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter in einem auf Baden-Württemberg angepassten Modell würden wir begrüßen“, so Marcus Schauer, Abteilungsleiter Rettungsdienst.