Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Eine Riesenchance, dass Europa am Ende der Krise stärker ist“
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet über Eingriffe in Freiheiten, Solidarität mit den Nachbarstaaten und Urlaub am Bodensee
Sie können seinem Kurs also nichts abgewinnen?
Nein. Die Regeln, die bestehen – also Kontaktbeschränkungen, Abstand, Masken –, müssen bis auf Weiteres beibehalten werden. So wenig angenehm dies sein mag, es ist immer noch das Richtige. Aber ich habe auch in den vergangenen Wochen immer wieder eingefordert, dass man abwägen und auch die Schäden des Lockdowns im Blick haben muss. Genau dies wird inzwischen immer häufiger artikuliert – beispielsweise von der Akademie der Kinder- und Jugendärzte, die monatelange Kita- und Schulschließungen für einen schweren Fehler hält. In den letzten Wochen wurden Operationen verschoben, Reha-Maßnahmen fanden nicht statt. Wir haben auch in den Altenheimen Menschen, die ihren Lebenswillen verloren haben. Ich habe Briefe von Angehörigen bekommen, deren Mütter oder Väter gestorben sind, weil für sie das Leben so keinen Sinn mehr gemacht hat. Darüber haben wir viel zu wenig geredet. Deshalb plädierte ich schon sehr früh dafür, die massiven Grundrechtseinschränkungen in der Corona-Krise von Woche zu Woche neu zu hinterfragen. Aber das ist etwas anderes als das, was Ministerpräsident Ramelow fordert. Ich bin für ein tastendes Öffnen, mit klaren Regeln – aber gegen ein HauruckAbschaffen aller Vorschriften.
Hätten Sie der Bevölkerung mehr Selbstbestimmung in der CoronaKrise zugestanden?
Es war immer meine Position, dass ein liberaler Staat genau abwägen und sich rechtfertigen muss, wenn Grundrechte eingeschränkt werden. Und zur Unterbrechung der Infektionsketten haben wir das öffentliche und soziale Leben so stark heruntergefahren – bei der Bewegungsfreiheit, Reisefreiheit, Religionsfreiheit, beim Recht auf Bildung – wie seit 70 Jahren nicht mehr. Das war zwar begründbar, weil zu Beginn des Lockdowns eine Katastrophe drohte und wir alle die Bilder aus Bergamo im Kopf hatten. Aber bei so niedrigen Infektionszahlen wie derzeit ist ein so umfassender Eingriff nicht mehr vertretbar.
Die Ministerpräsidenten der Länder vertreten in dieser Frage recht unterschiedliche Positionen. Muss die Bevölkerung sich daran gewöhnen, dass in dem einen Bundesland etwas erlaubt ist, was in dem anderen verboten ist?
Wir haben in den Bundesländern fast überall ähnliche Öffnungsmaßnahmen, nur etwas zeitversetzt. Da gibt es keine Riesenunterschiede. Hier in Nordrhein-Westfalen war unsere erste Öffnung am 20. April, der nächste Schritt mit der Gastronomie folgte am 6. Mai. Und aktuell haben wir sage und schreibe 75 Prozent weniger Infektionen als zu Beginn der Lockerungen. Das heißt, die Menschen haben sich sehr verantwortlich an die Regeln gehalten. Und ihnen gebührt großer Dank für ihr verantwortungsbewusstes und rücksichtsvolles Handeln.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder gehört zu denen, die vor allzu schnellen Lockerungen und einem Paradigmenwechsel in der Corona-Politik warnen.
Auch Bayern hat inzwischen vieles geöffnet. Die Regierung dort ist in sehr vielen Punkten auf dem gleichen Weg wie wir. Die Gastronomie durfte wieder öffnen, ebenso die Geschäfte. So groß ist der Unterschied also nicht. Ich halte es auch für klug, wenn die Länder in diesen Fragen eng beisammenbleiben.
Haben sich die politisch Verantwortlichen zu wenig Gedanken darüber gemacht, wie sie aus dem Shutdown wieder rauskommen? Es ist vergleichsweise einfach, Schulen, Kitas und Geschäfte zu schließen. Man muss aber auch eine Antwort darauf haben, wann sie wieder öffnen können. Dieser Gedanke hat mich von Anfang an beschäftigt. Man muss auch in der Krise immer an die Folgen denken. Das ist existenziell für unser Sozial- wie auch für unser Wirtschaftsleben. Die Schwächen des Lockdowns, die steigende Arbeitslosigkeit spüren wir ja ohnehin bereits. Insofern habe ich immer dafür geworben, rechtzeitig Kriterien zu benennen, nach denen wir wieder öffnen. Das hatten wir lange Zeit nicht.
In Oberschwaben und am Bodensee gehören offene Grenzen zu Österreich und zur Schweiz zum Lebensgefühl der Menschen und sind auch für die Wirtschaft in der Region immens wichtig. Sie haben die Grenzen zu den Niederlanden und zu Belgien offengelassen. Warum? Ein Virus lässt sich nicht an der
Grenze aufhalten. Wir haben aber zu lange zugeschaut, dass aus China Einreisen ohne Quarantäne stattgefunden haben – das war ein Fehler. Aber das betrifft doch nicht die Binnengrenzen in Europa. Wir hatten am Anfang das größte Problem mit Urlaubsrückkehrern aus den Skigebieten und aus Ischgl. Das waren aber vor allem Deutsche, die ohnehin einreisen durften. Deshalb haben wir bei uns die Grenzen offengelassen – mit begleitenden Maßnahmen, um die Pandemie hier wie dort zu bekämpfen. Wir haben damit essenzielle Versorgungsströme, die Gesundheitsversorgung und berufliche Existenzen gesichert. Zwischen Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden gibt es fast 50 000 Grenzpendler. Die offenen Grenzen zu den Niederlanden und Belgien waren und sind auch ein starkes Zeichen für Europa. Grenzüberschreitende Kooperationen helfen dem Gesundheitsschutz mehr als geschlossene Grenzen. Wir wussten beispielsweise immer, wie viele Klinikbetten in den Niederlanden zur Verfügung stehen, und wir haben Patienten bei uns aufgenommen. Der Rückgang der Infektionszahlen auf beiden Seiten der Grenzen zeigt, dass unsere Entscheidung richtig war.
Waren die Grenzschließungen also ein Fehler?
Wir hatten die Verabredung, dass dies jeder Ministerpräsident für seine Grenzen entscheiden kann. Für mich war klar, dass Grenzschließungen keine Lösung sind. Wenn, dann hätten ja die Niederländer den Schlagbaum runterlassen müssen, weil der Corona-Hotspot Heinsberg direkt an der Grenze liegt.
Sie streben Schritt für Schritt eine Rückkehr zum normalen Leben an. Wann nimmt der CDU-Wahlkampf um den Bundesvorsitz wieder Fahrt auf?
In Corona-Zeiten spielt der Wettbewerb um den CDU-Vorsitz für mich keine Rolle, weil ich jeden Tag damit beschäftigt bin, die Folgen der Krise abzuschätzen und ihre Auswirkungen im Blick zu behalten. Mit diesen Gedanken bin ich morgens aufgestanden und nachts eingeschlafen. Das ist bis heute so. Gerade die Lage der Wirtschaft treibt mich massiv um. Werden die mittelständischen Unternehmen überleben? Wie schaffen wir es, die Menschen wieder aus der Kurzarbeit zu bringen? Was müssen wir tun, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen?
Und wie sehr beschäftigt es Sie, dass alle Umfragen CSU-Chef Markus Söder als Kanzlerkandidaten der Union sehen?
Die erste Frage, die geklärt wird, ist der CDU-Vorsitz. Dann wird es auch darum gehen, ob sich die CDU als eine Volkspartei, in der Wirtschaftswird kompetenz und die soziale Frage zusammengehören, behaupten kann. Beides wird ganz besonders bei der europäischen Bewältigung der Corona-Folgen vonnöten sein. Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron haben einen wichtigen Impuls gegeben für ein starkes, solidarisches Europa. Deutschland als Exportland hat ein elementares Interesse daran, dass auch die Wirtschaft in Italien, Spanien, Griechenland und Frankreich rasch auf die Beine kommt. Das ist eine Richtungsfrage, ob wir diese Grundidee eines gemeinsamen Europas – angefangen vom Binnenmarkt, Schengen bis hin zur politischen Union – aufrechterhalten.
Das dürften Ihre CDU-internen Mitbewerber Friedrich Merz und Norbert Röttgen genauso sehen. Ich definiere mich nicht in der Unterscheidung von den beiden, sondern ich werbe für meine Ideen: Was sind die richtigen Lösungen und verantwortungsvollen Antworten auf diese großen Fragen unserer Zeit – und nicht: Was denken Mitbewerber?
Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer sagt, Parteivorsitz und Kanzlerschaft sollten in einer Hand liegen. Sehen Sie das auch so?
Es ist eine alte CDU-Erfahrung seit 1949, dass es gut ist, wenn dies zusammengeführt wird. Würde die CSU den Kanzler stellen, träfe dies natürlich nicht zu. Da aber Herr Söder erklärt hat, dass er das gar nicht will, stellt sich die Frage nicht.
Lassen Sie die besseren Umfragewerte für Söder tatsächlich kalt? Ja, weil ich das tue, was ich für richtig halte. In einer solchen Krise können Sie gar nichts anderes machen. Viele Leute waren zu Beginn der Pandemie in Sorge und haben gesagt: Verbietet ruhig alles! Ich glaube aber, dass es richtig war und ist, auch an die Zeit nach der akuten Infektionskrise zu denken und Nebenfolgen abzuwägen. Es hat im Übrigen auch Angela Merkel stark gemacht, auch im internationalen Kontext, dass sie immer diejenige ist, die abwägt, Entwicklungen und Folgen im Blick hat. Das ist die Stärke, die man ihr zutraut.
Wie viel geben Sie auf Söders Beteuerungen, nicht Kanzlerkandidat der Union werden zu wollen? Ich glaube Markus Söder grundsätzlich alles, was er sagt.
Die Landes-CDU in Baden-Württemberg gilt als eher konservativ – mit einem Faible für Friedrich Merz. Wie wollen Sie dort Boden gutmachen?
Die CDU Baden-Württemberg ist ein starker und vielfältiger Verband. Ich erfahre von vielen Mitgliedern aus dem Südwesten großen Zuspruch. Das freut mich. Ganz abgesehen davon: Wir zeigen hier in Nordrhein-Westfalen, einem Land, was über 50 Jahre sozialdemokratisch regiert wurde, ein klares Profil in der Industrie- und Wirtschaftspolitik und eine Null-Toleranz-Politik in der Inneren Sicherheit. Wir setzen hier seit fast genau drei Jahren Themen um, die auch eher konservativ geprägten Menschen ein wichtiges Anliegen sind. Wir machen eine Politik für den Mittelstand, bringen die Entbürokratisierung für Unternehmen und beschleunigen das Planungsrecht. Mit diesem Profil werbe ich für Vertrauen: bei den Menschen in Nordrhein-Westfalen, die unserer Regierung ein gutes Zeugnis ausstellen – und bei den Delegierten aus Baden-Württemberg.
Sie haben vorher das von Merkel und Macron angestoßene Milliardenpaket zur Unterstützung Corona-geschädigter EU-Länder angesprochen. Wie groß ist der Rückhalt in der CDU für das Vorhaben? Die öffentlichen Äußerungen von Parteimitgliedern sprechen für eine große Zustimmung. Selbst diejenigen, die sonst skeptisch waren bei europäischen Einigungsschritten, wissen jetzt, dass es uns am Ende hilft, wenn die anderen stark sind. Es ist unstrittig, dass die Stärkeren den Schwächeren helfen müssen, die Folgen der Corona-Krise zu überstehen. Nur für diesen Zweck wird diese gemeinsame Anleihe aufgenommen, sie ist befristet und wird wieder beendet. Das ist kein Schritt in eine Schuldenunion, sondern nur das derzeit richtige Instrument auf eine in der Integrationsgeschichte einzigartige Herausforderung. Ohne ein starkes Italien, Spanien, Frankreich
auch Deutschlands Exportwirtschaft nicht stark.
Haben das unsere niederländischen Nachbarn, mit denen Sie so gute Beziehungen unterhalten, nur noch nicht verstanden?
Ich setze darauf, dass die Staats- und Regierungschefs am Ende eine Lösung finden, die vielleicht darin besteht, dass es den deutsch-französischen Vorschlag gibt und zusätzlich dazu Kredite, die von den EU-Ländern zurückbezahlt werden müssen. Am Ende wird eine Kombination der Ideen alle 27 Mitgliedsstaaten zusammenbringen.
Deutschland übernimmt am 1. Juli für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft. Müsste es nicht vordringliches Ziel der Bundesregierung sein, das Einstimmigkeitsprinzip durch Mehrheitsentscheidungen abzulösen?
Wir brauchen sicherlich mehr Mehrheitsentscheidungen. Aber in einer so fundamentalen Frage, der erstmaligen Aufnahme von Krediten durch die EU, kann man nicht einfach per Mehrheit kritische Mitgliedsländer überstimmen. Das erfordert die Grundüberzeugung aller Mitgliedsländer. Bei der Flüchtlingspolitik ist das ähnlich. Wenn ein Land wie Ungarn sich schlicht weigert, Flüchtlinge aufzunehmen, ist es nicht zielführend, die Aufnahme einfach mit einer Mehrheit zu erzwingen. Das würde zu keinem guten Ergebnis führen. Entscheidend ist, dass jetzt eine Diskussion in Gang kommt, die nach vorne und damit in die Zukunft gerichtet ist und nicht rückwärtsgewandt argumentiert. Die Krise ist Aufforderung und Chance, über weiterreichende Reformen in Europa nachzudenken und einen solchen Prozess zügig einzuleiten.
Wie würden Sie den Zustand der EU nach drei Monaten CoronaKrise charakterisieren: noch zu retten oder kurz vor dem Auseinanderbrechen?
Krise heißt ja übersetzt: Phase der Entscheidung. In der Tat stand die Europäische Union in ihrer Geschichte noch nie vor einer so großen Herausforderung. Wenn jeder in nationalstaatliche Lösungen zurückfällt, könnte das Projekt scheitern. Doch wir sollten bedenken, dass jeder Mitgliedsstaat zu klein ist, um die Herausforderungen, die uns zum Beispiel China und die USA bescheren, zu bestehen. Wenn wir nicht als großer, gemeinsamer Raum wettbewerbsfähig sind, wird ein Unternehmen nach dem anderen in Europa von China übernommen. Und wir werden bei Forschung und Digitalisierung den Anschluss verlieren. Sich gegen diese Entwicklungen zu stemmen, geht nur gemeinsam. Mit dem Vorschlag von Merkel und Macron als finanziellem Anstoß besteht die Riesenchance, dass Europa am Ende der Krise stärker, solidarischer und gemeinsam stärker in der Welt sein wird.
Nächste Woche wird das Kabinett darüber entscheiden, ob zum 15. Juni die allgemeine Reisewarnung aufgehoben wird. Hat das auch auf Ihre Urlaubsplanung Einfluss – oder hatten Sie ohnehin vor, dem Bodensee treu zu bleiben? Tourismus scheint ja in allen Bundesländern wieder möglich zu sein, das Bekenntnis zum Tourismus ist Allgemeinkonsens. Ich werde wieder an den Bodensee fahren, wie die letzten Jahre. Die Öffnungen im Inland waren kein Problem, aber die Auslandsreisen beobachte ich mit einer gewissen Sorge, weil niemand weiß, wie die Hygiene- und Verhaltensregeln an den Touristenorten umgesetzt werden und wie wir Infektionsketten nachverfolgen können. Dennoch kann man den Menschen nicht das Reisen verbieten. Wir brauchen gemeinsame europäische Standards. Der internationale Tourismus ist deshalb eine ganz neue Dimension, die besondere Vorsicht und Achtsamkeit erfordert. Auf Mallorca aus Eimern Sangria zu trinken, wäre unverantwortlich. Die Corona-Hotspots sind genau dort entstanden, wo Menschen eng zusammen gefeiert haben, Alkohol im Spiel war und nicht umsichtig gehandelt wurde. Das zeigt auch das Beispiel Ischgl. Deshalb müssen die Tourismusregionen Regeln durchsetzen, ähnlich denen, die bei uns gelten.
Und worauf freuen Sie sich in Ihrem Urlaub?
Ich wünsche mir, ein wenig zur Ruhe zu kommen. Das gelingt am See.