Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
In der Kirchstraße wird heftig geküsst
Rutenfest vor fünf Jahren: Beim langen Zug der Altschützen zur Kuppelnau menschelt es
RAVENSBURG - „Küssen, küssen...!“Unüberhörbar sind die Zurufe aus den Reihen der Zuschauer, die sich beim Festzug am Rutenmontag in der oberen Marktstraße drängen. Sie gelten kostümierten Festzug-Teilnehmern, blutjungen, noch etwas schüchternen Paaren, die zu Fuß, hoch zu Ross oder auf prächtig geschmückten Festwagen aus dem Obertor hervorquellen. Solche Anfeuerungsrufe wiederholen sich Jahr für Jahr beim Rutenfest. Beim Zug der Altschützen, der sich nur alle fünf Jahre am Rutensonntag durch die Innenstadt in Richtung Kuppelnau bewegt, bedarf es solcher Ermunterungsrufe allerdings nicht. Viele Tausende Ehemalige der Ravensburger Gymnasien, bis hin zu den ganz Alten, werden nämlich von temperamentvoller Weiblichkeit am Straßenrand ganz spontan so stürmisch umhalst und abgeküsst, dass sie vor Freude über das ganze Gesicht strahlen.
In der Kirchstraße wird der alte Brauch besonders hingebungsvoll gepflegt. Dort menschelt es besonders heftig. Der stille Beobachter am Straßenrand kann zwar nicht erwarten, auch einmal so herzhaft liebkost zu werden, denn er ist in Ravensburg nicht zur Schule gegangen, folglich nicht befugt, zur Armbrust zu greifen. Gleichwohl wird ihm inmitten von so viel hochgestimmten Ravensburgern
auch ganz „ruatelig“ums Herz.
Beim Zug der Altschützen durch die Altstadt am Rutensonntag verhält es sich übrigens genau umgekehrt wie beim anschließenden Altenschießen auf der „Kuppela“, wo traditionsgemäß zuerst die Ältesten an der Reihe sind, mit der Armbrust auf den Reichsadler zu zielen. In der Kirchstraße bilden hinter den obligatorischen drei Herolden hoch zu Ross die jüngsten Jahrgänge der Altschützen die Spitze des Zuges. Männer in den besten Jahren. Sie stehen noch voll im Safte. Ebenso ansehnliche Damen, den Herren der Schöpfung als Freundinnen oder Ehefrauen verbunden, stürzen spontan aus der Zuschauermenge hervor, fallen ihnen um den Hals und küssen sie ab. Dazu gibt’s noch Rosen ans Revers.
Etliche Altschützen gehen freilich auch leer aus. Sie müssen mit ansehen, in welch hoher weiblicher Gunst ihre Jahrgangskumpel offensichtlich stehen. Unglaublich, wie viel Temperament in der gutbürgerlichen Ravensburger Weiblichkeit steckt, geht dem Beobachter durch den Kopf. Wo sonst sieht er so viele fröhliche Gesichter rings um sich her? Rutenfest-Freude – hier ist sie mit Händen zu greifen.
Ältere Jahrgänge rücken heran, immer noch ziemlich gut beieinander. Freilich schleppt da so mancher neben der eigenen Armbrust bereits einen gehörigen Ranzen mit sich herum. Und die Haarpracht von einst ist auch schon gelichtet. Der eine oder andere kommt, ziemlich gebeugt von der Last der Jahre, daher. Doch auch viele dieser Männer in vorgerücktem Alter sind überschäumender weiblicher Gunst sicher. Manche sehen sich plötzlich von der quicklebendigen Schar ihrer Enkelinnen umringt und mit Blumen förmlich eingedeckt.
Dann die 1937er! Das Häuflein dieser Aufrechten, die hinter dem Jahrgangstäfele aufkreuzen, ist nun schon merklich kleiner. Der Beobachter, auch ein 1937er, konstatiert betroffen, wie sehr doch sein Jahrgang schon gealtert ist, wie sichtbar der Zahn der Zeit an ihm genagt hat. Dabei fühlt Mann sich doch selbst in diesem Alter noch viel jünger! Der nachdenkliche Zuschauer kommt ins Grübeln. Hier zieht das Leben in all seiner Vergänglichkeit vorüber. Hier in der Kirchstraße, beim Zug der Altschützen durch die Stadt und beim Altenschießen auf der Kuppelnau, werden die Senioren aber auch geehrt.
Schließlich nähern sich die noch Älteren. Gekrümmte Rücken, nicht mehr so gut zu Fuß, graue Haare oder gar keine mehr, vom Leben gezeichnet. Aber auch etliche von ihnen werden geherzt, einer von einer Dame mit Rollator, ein anderer von einer auch nicht mehr jungen Verehrerin, die sich zur Feier des Tages in ein fesches Dirndl geworfen hat. Die
Beschwerden des vorgerückten Alters – hier und jetzt sind sie einfach vergessen vor Freude. Zutiefst menschliche Szenen spielen sich ab, wie man sie nur beim Rutenfest im Altschützenjahr erleben kann.
Endlich rollen die hochbetagten Altschützen in prächtigen, pferdebespannten Kutschen vorüber, die sich den Fußmarsch nicht mehr zumuten können, winken nach allen Seiten huldvoll, quittieren Hochrufe mit strahlenden Lächeln, werden natürlich auch umarmt und gefeiert. Dass die meisten von ihnen in fünf Jahren beim Altenschießen wohl nicht mehr unter den Lebenden sein werden, wissen sie natürlich alle. Aber das trübt ihre Festfreude mitnichten.
Angekommen auf der Kuppelnau, formieren sich die Tausende von Altschützen, Trommlerkorps und das Stadtorchester vor der dicht besetzten Tribüne zu einem riesigen Karree. Bevor die beiden Holzadler hoch droben auf den Stangen unter Beschuss genommen werden, wird die althergebrachte Festzeremonie mit eiserner Konsequenz durchgezogen, mag nun die Sonne vom Himmel brennen, mag es regnen oder stürmen, wahrscheinlich auch bei Schneefall mitten im Sommer, ein eher unwahrscheinlicher Fall, der nicht überliefert ist.
Da kennt der traditionsbewusste Ravensburger nichts: Ravensburger Heimatlied, Ansprachen, Trommelwirbel, Deutschlandlied und das umstrittene Schützenlied mit dem martialischen Text: „Wisst ihr, wer Deutschlands Retter war? Ein Schütz', der Held Armin! Er schlug bei hellem Morgenrot der Römer Legionen tot, und wir sind frei durch ihn!“. Kräftig intonieren die Altschützen diese und die drei anderen Strophen.
Endlich treten die ältesten von ihnen als Erste in den Schießstand. Ein Opa, der nicht mitschießt, sondern nur zuschaut, hat seine Enkelin auf den Schultern, damit sie besser sieht. „Opa, dir wachsen wieder Haare!“, stellt die Kleine zum Gaudium der Umstehenden fest. Der Opa muss sie enttäuschen. Da wächst halt leider gar nichts mehr.