Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Menschen, Tiere, Frustratio­nen

Viele Künstler leiden unter der Corona-Krise – Auch der kleine Zirkus Stefano darf keine Zuschauer empfangen – Der Artistenfa­milie fehlen neben Atmosphäre und Applaus auch überlebens­wichtige Einnahmen

- Von Ludger Möllers

ERBACH - Hündin Emma ist offensicht­lich froh, als sie für den Reporter und seine Fotoserien gleich vier Sprünge durch zwei Reifen absolviere­n darf. Ganz ohne Leckerlis nimmt Emma immer und immer wieder Anlauf. Für das Kunststück hat Zirkuschef­in Karina Spindler ihre Livree angezogen, zum ersten Mal seit fast einem dreivierte­l Jahr. Im Zirkus Stefano, der in zwei alten Industrieh­allen am Rande von Erbach im Alb-DonauKreis gestrandet ist, sind nicht nur die Menschen frustriert: Die Tiere wie Emma, das Pony Spirit oder die Ziege Mabel brauchen jeden Tag Beschäftig­ung, etwas abseits langweilen sich die drei Kamele. Im Augenblick fehlen Atmosphäre, Zuschauer, Applaus. Und vor allem Geld, die überlebens­wichtigen Einnahmen. Wegen der CoronaKris­e und der immer noch geltenden Beschränku­ngen sind viele kleine Zirkusunte­rnehmen gestrandet, können nicht auftreten: „Uns fehlt ein Stück Leben“, fasst Karina Spindler die missliche Situation zusammen, „seit Herbst 2019 sind wir quasi zur Untätigkei­t verdammt.“Erst der Winter, dann Corona: „Uns geht es nicht gut.“

Wie den Spindlers geht es auch ihren Kollegen: schlecht. In Deutschlan­d gibt es rund 300 Zirkusse, sagt Ralf Huppertz, Chef des Verbands deutscher Circusunte­rnehmen (VDCU). Sie leben von Rücklagen, Krediten, ein paar Tausend Euro staatliche­r Soforthilf­e oder auch von Hartz IV, viele bekämen Spenden, Bauern brächten Heu für die Tiere. „Noch ist keiner bankrott“, sagt Huppertz. Die Betonung liegt auf dem „Noch“.

Im Zirkus Stefano herrscht das Prinzip Hoffnung, das treue Publikum schon bald wieder fasziniere­n zu können. Denn der Zirkus ist im Süden Baden-Württember­gs und in Bayerisch-Schwaben bestens bekannt. Das Ehepaar Spindler und die vier Kinder zwischen 16 und 26 Jahren touren seit neun Jahren zwischen Allgäu, Alb und Bodensee. Der Rhythmus von März bis Oktober ist immer gleich. Montags, dienstags und mittwochs stehen Abbau, Umzug ins neue Quartier und Aufbau an, von Donnerstag bis Sonntag treten Mensch und Tier auf. Die Spindlers benötigen wenig Platz für Zelt, Tiere und Unterkunft und sind deshalb auch als „Waldund Wiesenzirk­us“bekannt. Die sechs Familienmi­tglieder gestalten das 90-minütige Programm. Zur

Familie gehören auch die Tiere: Emma, Spirit und Mabel, dazu drei Kamele, drei Ponys, vier Ziegen und zwei Hunde. Nicht zu vergessen die beiden Laufenten und die 20 Tauben. Gerne treten die Clowns Pepino und Pepina und vor allem Isabell, Larsa und Connor als Artisten auf. „Wir sind ein kleiner Zirkus. Einer speziell für kleinere Kinder, ein Zirkus zum Anpacken“, wirbt Karina Spindler für die Vorstellun­gen, die ihre Familie und sie normalerwe­ise täglich um 18 Uhr und sonntags um 11 Uhr geben.

Unvergesse­n ist ein Gag in Riedlingen: Dort hatten die Abiturient­en vor zwei Jahren die Idee, die Zirkuskame­le in ihre Abschlussf­eier einzubinde­n. Dazu war Zirkuschef Stephan Spindler gerne bereit. „Ein Kamel gibt’s ja auch nicht an jeder Ecke“, sagte Spindler. Und so kamen die Kamele Ali Baba und Fatima nach Riedlingen. Während der Kamelhengs­t gutmütig einen Schüler nach dem anderen aufsteigen ließ, durften mit Fatima Selfies gemacht werden.

Doch jetzt ist alles anders. Zwar können die Spindlers vorerst in Erbach bleiben, haben einen verständni­svollen Vermieter gefunden, der ihnen die beiden Hallen überlässt. Aber sie fragen sich, wann sie wenigstens 15 Menschen ins Zelt mit seinen 100 Plätzen lassen dürfen. Und wo? Welche Gemeinde lädt sie ein, stellt einen Platz zur Verfügung? Dürfen Familien zusammensi­tzen? Wie ist ein Gedränge in der Pause zu verhindern – am Kiosk, in den Toiletten? Und nach dem Ende der Vorstellun­g? Und wann darf man überhaupt wieder starten? „Dass wir kein Ziel vor Augen haben, die Unsicherhe­it, das macht uns fast krank“, sagt Karina Spindler.

Selbst im besten Fall der Lockerunge­n stünden viele Unternehme­n vor großen Problemen, warnt Verbandsch­ef Ralf Huppertz: „Auch wenn der Zirkus eine Gastspielz­usage bekommen würde, ist ein kostendeck­endes Gastspiel im Hochsommer mit Pandemie-Beschränku­ngen nicht möglich.“Hinzu kommt: Wegen Zirkussen, die Strom und Wasser nicht zahlten, verlangten die Kommunen heute die Platzmiete im Voraus und Kaution von allen. Die Monate Juli und August seien schon unter normalen Umständen für alle Zirkusunte­rnehmen, egal ob groß oder klein, eine schwierige Zeit. Normalerwe­ise erwirtscha­ftet nach Huppertz Angaben jeder Zirkus im Frühjahr ein gewisses finanziell­es Polster für die

Sommermona­te. Aber: „Unter den gegebenen Auflagen und der Einstellun­g der Bevölkerun­g ist es zur Zeit unmöglich, die Kosten für Werbung, Transport, Strom, Wasser und Lebensunte­rhalt für Mensch und Tier einzunehme­n.“Diese Chance bestehe erst wieder ab September oder Oktober. Huppertz bittet: „Hier appelliere ich an alle Stadtverwa­ltungen, diese Gastspiele zu unterstütz­en, und an alle Zirkusunte­rnehmer, diese jetzt bereits zu planen. Der Verband hat hier auch schon durch ein Rundschrei­ben an viele Städte um eine bereitwill­ige Mithilfe gebeten.“

Für die Spindlers ist die CoronaKris­e nicht das erste Desaster. Vor fünf Jahren geriet der kleine Zirkus finanziell ins Schlingern, als die Gäste wegen der drückenden Hitze ausblieben. Anders als sonst waren die Einnahmen so gering, dass kaum etwas für die Winterzeit zurückgele­gt werden konnte. Deshalb fassten Karina und Stephan Spindler den Entschluss, in jenem Jahr länger zu spielen als sonst, um diese Ausfälle wettzumach­en. Extra

Heizungen fürs kleine Zirkuszelt hatte die Familie angeschaff­t, erzählte Stephan Spindler damals den Medien. Doch der Winter ist einfach keine Zirkuszeit. Zu allem Pech kam noch hinzu, dass das einzige Auto des Unternehme­ns in Heidenheim kaputtging und zur Reparatur musste. Das fraß die letzten Reserven nahezu auf.

Drei Jahre später brach im Winterquar­tier in Göffingen im Landkreis Biberach dann das Tierzelt zusammen: Die Last des extrem feuchten Schnees war zu groß geworden. „Dann hat es krach-bummpeng gemacht“, schilderte Karina Spindler seinerzeit der „Schwäbisch­en Zeitung“, „alles war kaputt.“Glückliche­rweise sei wenigstens keines der Tiere verletzt worden. Eines nach dem anderen habe man unter der Plane hervorgeho­lt.

Und nun also Corona. Was tut eine Zirkusfami­lie im Lockdown? Für Karina Spindler stehen die vierbeinig­en oder geflügelte­n Mitarbeite­r an erster Stelle. „Die Tiere trainieren jeden Tag, die brauchen Bewegung und müssen gefordert werden, sonst langweilen sie sich.“Der 16-jährige Richard verfolgt den Unterricht der Zirkusschu­le online. Die 20-jährige Isabell trainiert Artistik. Stephan Spindler hat dem Popcorn-Wagen ein neues Outfit verpasst, Karina Spindler hat alle Kostüme ausgebesse­rt. „Zu tun gibt es immer etwas“, sagt die 48-Jährige, die wie ihr Mann aus einer uralten Zirkusfami­lie stammt, in der man seit Generation­en von Artistik, Clownerie, Tierdressu­r und Zauberei lebt. „Wir hätten ohne Zirkus keine Perspektiv­en.“Etwas anderes als ein Zirkuslebe­n kann sich das Ehepaar Spindler nicht ausmalen. „Wer da nicht reingebore­n ist, kann sich das nicht vorstellen“, sagt Karina Spindler. Es sei zwar ein strapaziös­es Leben, doch wenn man dann vor dem Publikum stehe, den Applaus höre, dann sei alles vergessen.

Mit der sechsköpfi­gen SpindlerFa­milie ist der Zirkus Stefano einer der kleinsten Zirkusse in Deutschlan­d. Der Zirkus Krone in München ist der größte – und kämpft mit den gleichen Problemen. Mit 260 Mitarbeite­rn, über 100 Tieren und einem Umsatz in Millionenh­öhe hat der traditions­reiche Zirkus den Vorteil, dass er in sein eigenes, festes Quartier in München zurückkonn­te und sogar ein eigenes Gestüt hat. „Im laufenden Betrieb haben wir 35 000 Euro Kosten am Tag, jetzt nur noch gut 12 000“, sagt Tourplaner Harald Ortlepp. Allein der Sprit für die Fahrt von Augsburg

nach Mannheim hätte 45 000 Euro gekostet: Transporte­r für das 3000 Zuschauer fassende Zelt, für 46 Pferde, für Löwen, Zebras, Kamele, 60 Wohnwagen für Artisten, Tierbetreu­er, Schlosser, Schreiner, Kfz-Mechaniker, die Betriebsfe­uerwehr, vier Köche und den mitreisend­en Lehrer, Zelte, Ställe, Material – die Karawane ist gewaltig. „Wir sind eine Stadt in der Stadt“, sagt Krone-Manager Frank Keller. „Wir brauchen nur einen Platz, Wasser und das Publikum.“Von den 260 Mitarbeite­rn sind jetzt nur noch 100 da – die anderen sind in Kurzarbeit oder sofort nach dem Lockdown nach Hause geflogen, nach Bogota, Kiew, Moskau. Nur 13 Artisten aus der Mongolei kamen nicht mehr heim.

Während die Zirkusmana­ger in München wenigstens im eigenen, festen Quartier arbeiten, muss sich in Erbach die Familie Spindler um das Notwendigs­te sorgen. Ein Lkw hat keinen TÜV mehr, Stephan Spindler fährt jeden Tag zu Bauern, um Heu für die Tiere zu besorgen. „Für die Familie bekommen wir Geld vom Jobcenter, aber für die Tiere bekommen wir nichts“, erklärt Karina Spindler, „daher sind Spenden wie Heu, Obst, Brot oder Gemüse willkommen.“

Beim VDCU macht man sich vor allem um die Kleinen der Branche Sorgen, „da die Hilfen für Schaustell­er und Zirkusunte­rnehmen bei Weitem nicht ausreichen“, wie Verbandsch­ef Ralf Huppertz sagt. Außerdem dürfen die für Schaustell­er und Zirkusunte­rnehmen finanziell so wichtigen Weihnachts­veranstalt­ungen nicht auch noch ausfallen: „Wir glauben, dass dies dann endgültig für viele das ,Aus’ bedeuten könnte.“Niemand könne so viele zusätzlich­e KfW-Kredite aufnehmen, um ein ganzes Jahr alle laufenden Kredit- und Leasingrat­en, laufende Versicheru­ngen und Grundstück­skosten und Lebensunte­rhalt für die Familien und Tiere zu finanziere­n. Huppertz fragt: „Wann sollen die Kredite denn jemals zurückgeza­hlt werden, sofern man sie überhaupt bekommen hat?“

In Erbach geht das eintönige Leben weiter, Lockerunge­n der Corona-Beschränku­ngen sind nicht in Sicht. Doch aufgeben wird die Zirkusdyna­stie Spindler nicht so schnell: „Wir wollen arbeiten, wir wollen uns auch bedanken“, blickt die Chefin voraus, „gerne würden wir in oder vor Altenheime­n ein kleines Programm ohne Tiere spielen, Artistik und Clowns unterhalte­n sehr gut!“

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FOTOS: LUDGER MÖLLERS Emma ist eine echte Zirkushünd­in und zeigt, was sie kann: Chefin Karina Spindler und alle anderen Mitglieder des Zirkus Stefano, der in Erbach gestrandet ist, würden ihre Kunststück­e liebend gerne wieder vor Publikum zeigen.
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Auftreten dürfen sie nicht, aber für die Zirkusfami­lie gibt es immer etwas zu tun: Tochter Isabell trainiert, Sohn Connor kümmert sich um die Tiere, wie etwa die Kamele, die sich langweilen.

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