Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Jugendhilfeverein ist ein Erfolgsmodell
SZ-Serie: Im Betreuten Wohnen fanden schon viele Jugendliche eine Zukunft
RAVENSBURG/WEINGARTEN - Im Betreuten Wohnen des Jugendhilfevereins Ravensburg (RJV) fanden zahllose Jugendliche in Weingarten eine Zukunft, die sie alleine nicht gefunden hätten. Khanullah Mulakhil erzählt seine ungewöhnliche Geschichte.
Er ist als Fünfzehnjähriger vor dem Krieg und der Rekrutierung durch die Taliban, aus Angst, zum Morden gezwungen zu werden, alleine aus Afghanistan geflohen. Man braucht eine sehr große Landkarte, um wenigstens die geografische Reise zu verstehen, die Khanullah Mulakhil bis nach Weingarten geschafft hat. Die Gefahren, die Strapazen, die er überlebte, kann man nicht mal erahnen: Von Afghanistan über Pakistan durch den Iran in die Türkei. Festgehalten, versteckt, geschuftet und ausgebeutet für die nächste Passage. Durch Bulgarien nach Serbien. Dort setzte er sich in einen Zug und landete in Rosenheim, bei der Polizei, dem Jugendamt und auf wundersamen Wegen in Weingarten, für zwei Jahre bei einer Pflegefamilie. „Die waren nett, haben geholfen, ich bin ihnen sehr dankbar.“Der Deutschkurs macht ihm Spaß, die Kolpingschule. Schritt für Schritt kommt er voran – mit Hilfe des RJV und der Gewerblichen Schule schafft er den Hauptschulabschluss und bekommt ein Zimmer in der „Villa“in Weingarten, einem von mehreren Gebäuden des Jugendhilfevereins im Kreis Ravensburg.
Holger Benz, Sozialarbeiter, erklärt: „Die Jugendlichen kommen über das Jugendamt zu uns. Mit den verschiedensten Hintergründen. Alles was man sich vorstellen kann. Oder auch nicht. Da ist sexueller Missbrauch
in der Familie dabei, Sekten oder ein gewalttätiger Stiefvater. In vielen Fällen betrifft das bildungsschwache Familien aus der ganzen Bundesrepublik.“Es gibt auch Jugendliche, die den Zwängen ihrer Kultur davonlaufen, in Bosnien, die in der Türkei zwangsverheiratet werden sollten. „Wir sind keine Familientherapeuten, da intervenieren wir nicht. Sie müssen lernen, in zwei Welten zu leben“, sich von der alten zu trennen und damit von rigiden Werten, die mit den neuen unvereinbar sind. Da kann es vorkommen, dass die Mitarbeiter des RJV geheim halten müssen, wo die Davongelaufenen wohnen. Das kann tragisch enden. Jene Bewohnerin, die zu Hause in der Türkei zu fünft in einem Bett schlief. Und nun zu sechst in der Gemeinschaft in der „Villa“, und doch jeder allein, um die Selbstständigkeit zu lernen. „Sie hat den Zwiespalt nicht mehr ertragen und nahm sich später das Leben“, so Benz.
Betreutes Wohnen in der Villa und weiteren zehn Mietwohnungen in Ravensburg und Weingarten bedeutet, jeder Jugendliche bekommt vom Jugendamt eine feste Summe, um ein leeres Appartement einzurichten. Holger Benz: „Wir versuchen, mit ihnen zu verhandeln, dass sie zu Fairkauf gehen, aber viele wollen zum ersten Mal in ihrem Leben etwas Neues, etwas Glänzendes. Vielleicht um sich ‚normal‘ zu fühlen. Was diese Jugendlichen wollen, entspricht nicht immer dem, was wir mit unserer pädagogischen Arbeit im Sinn haben. Damit müssen wir Sozialarbeiter leben. Sie haben einen freien Willen. Und den zu akzeptieren fällt nicht immer leicht.“
Leider können die meisten nicht auf positive Familienerfahrungen zurückgreifen, wären deshalb für Wohngruppen nicht tauglich. Ein zentrales
Ziel, sagt Benz, ist, „die Eigenverant- wortlichkeit zu fördern, oft auch die Resozialisierung, wenn sie ganz unten waren. In einer Gruppe sind die meisten überfordert. Wenn sie es zulassen, sind wir für sie da. Auch individuell.“Sehr sensibel gilt es herausfinden, was der Einzelne mitbringt. Sie haben Potenziale, kennen sie aber nicht, können sie also nicht nutzen. Ist vielleicht die Energie für die Realschule drin, was aber am Anfang weit von ihren Zukunftsvorstellungen entfernt ist. „Sie wollen schnell viel Geld verdienen, ein Auto kaufen, eine eigene Wohnung haben und eine Freundin.“Thema Sex? „Manche sind schon mit 14 verkorkst“, sagt der Sozialarbeiter. Deshalb organisiert das Team des Jugendhilfevereins „sehr feinfühlige Abende“mit Pro Familia. Es bedarf einer hochsensiblen, flexiblen Pädagogik, basisdemokratisch immer wieder im Team überprüft und an den komplexen Bedürfnissen dieser Jugendlichen ausgerichtet. Das macht ihren Erfolg aus.
Zukunft? Khanulla Mulakhil kannte nur die Vergangenheit und in die, nach Afghanistan, wollte er nie wieder zurück. Er fand eine deutsche Freundin, gerade 18, sie bekam ein Kind von ihm. Die Eltern akzeptierten ihn, nahmen ihre Tochter mit dem Baby bei sich auf. „Ich habe das Kind von Anfang an angenommen. Ich wusste, ich muss etwas für es machen. Ein Haus bauen. Wir sind zusammengeblieben, ich arbeite jeden Tag“, erklärt er in gutem Deutsch. Er fand ein Praktikum als Lackierer, arbeitet jetzt als Hilfsarbeiter, zahlt die Miete für die Wohnung selbst, nachdem er mit 20 Jahren das Betreute Jugendwohnen verlassen musste, und ist stolz darauf, dass er von diesem Land keine Hilfe braucht. „Ich möchte eine Ausbildung machen und hierbleiben und mit meinem Kind und meiner Familie glücklich sein. Mein Sohn heißt Ismail, meine Freundin ist christlich, ich bin Muslim. Das ist kein Problem. Wir haben viele Freunde, für die ist es auch kein Problem.“
Er hat Bleiberecht für drei Jahre und was dann? „Wenn sie mich abschieben, habe ich keine Zukunft in Afghanistan.“Das macht ihm Angst. „Wir wollen auch heiraten, wenn ich auf eigenen Beinen stehen kann. Ich habe gehört, manche sagen, er hat ein Kind gemacht wegen der Papiere. Aber das stimmt nicht. Ich nehme kein Geld von diesem Land. Warum dürfen Leute wie ich nicht bleiben? Wir sind doch alle gleiche Menschen.“