Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Mit Menschenketten gegen den Diktator
Trotz hartem Vorgehen gegen Demonstranten in Belarus gehen Proteste weiter – Staatsbetriebe werden bestreikt
MOSKAU - Es gibt belarussiche Polizisten, die sich für ihren Staat schämen. „Ich würde Ihre Beschwerde selbst unterschreiben“, sagte ein Minsker Beamter zu Anna Beresina, einer Wahlbeobachterin, die ihm eine Eingabe gegen die gefälschten Auszählungen bei den Präsidentschaftswahlen überreichte. „Aber ich habe einen Kredit über fünftausend Dollar am Hals, ich darf meine Arbeit jetzt nicht verlieren.“Keineswegs alle Polizisten seien Bestien, Anna lächelt traurig.
Aber fünf Tage nach dem massiv manipulierten 80 Prozent Wahlsieg Alexander Lukaschenkos ist der Ruf der Polizei so ruiniert wie der ihres Staatschefs Alexander Lukaschenko. Mehrere Nächte lang veranstalteten die Sicherheitsorgane brutale Treibjagden auf Zehntausende Landsleute, die gegen Lukaschenkos getürkten Sieg protestierten. „Die Repressalien der Staatsmacht sind beispiellos“, urteilt der Minsker Politologe Alexander Kasakewitsch. „Aber offenbar gelingt es dem Sicherheitsapparat mit ihrer Hilfe, diese Protestwelle zu unterdrücken.“Noch hofft die Opposition auf einen Generalstreik, am Donnerstag befanden sich etwa ein Dutzend Betriebe im Ausstand. Doch die Obrigkeit fühlte sich schon am Mittwoch soweit als Herr der Lage, dass sie das lahmgelegte Internet wieder einschaltete.
Und die Belarussen erlebten Tage des Entsetzens. Auf offener Straße schlugen und traten Einsatzpolizisten am Boden liegende Menschen, sie feuerten Blendgranaten direkt in Menschenmengen. Aus Polizeibussen hörte man minutenlang Schmerzensschreie von Festgenommenen. Pkws, deren Fahrer die Demonstranten durch Hupen unterstützten, wurden mit Knüppeln demoliert. In Minsk droschen Einsatzpolizisten von hinten auf Motorradfahrer ein. In Grodno wurde ein fünfjähriges Mädchen blutig geschlagen, in Brest schossen die Ordnungshüter aus Pistolen scharf auf Protestierende, überall wurden auch zufällige Passanten niedergeknüppelt und verschleppt. Journalisten erging es ebenso. Der russische Reporter Nikita Telischenko berichtet, auf einer Minsker Polizeiwache hätten Beamte ihn und andere Opfer stapelweise auf den Boden gelegt und verprügelt, auf einigen seien sie herumgetrampelt. „Sie zwangen die Gefangenen, das Vaterunser aufzusagen, wer sich weigerte, den schlugen sie mit allem, was sie in die Hände bekamen.“
Ein Demonstrant kam Montagnacht in Minsk um, nach Angaben von Augenzeugen traf ihn eine Blendgranate, im Gomel starb ein junger Mann in einem Polizeibus an Herzversagen. Die Zahl der Schwerverletzten ist unklar, nach Angaben des Innenministeriums wurden allein in den ersten drei Tagen 6000 Menschen festgenommen. Anna sagt, elf ihrer Freunde seien festgenommen worden, der Verbleib von neun sei noch unklar. Auch Menschen, die gegen Lukaschenko gestimmt haben, gestehen, sie wagten nicht mehr zu demonstrieren. Sowjetische Ängste werden wieder laut. „Wenn ich jetzt auf die Straße gehe, komme ich vielleicht erst in zehn Jahren wieder zurück“, erklärte ein Minsker dem russischen Kanal TV Doschd. Schon wird in den sozialen Netzen wie in den Küchen der Stalinzeit diskutiert, welche Lebensmittel man den Häftlingen ins Gefängnis schicken darf. „Schokolade, Bonbons, haltbare Wurst, Dörrfleisch gehen. Obst und Beeren sind verboten. Zitronen, Zwiebel und Knoblauch gehen.“Bis zu 30 Kilogramm im Monat seien gestattet. In Osteuropa droht ein Polizeistaat
nach dem Vorbild des sowjetischen Gulag-Systems aufzuerstehen. Wie damals müssen sich die Weißrussen wieder vor nächtlichen Festnahmen oder dem Verschwinden in Straflager fürchten. Und sie rätseln über die Wut, mit der ihre Landsleute in Einsatzmonturen über sie herfallen. „Offenbar wollte die Staatsmacht alle Unmutsäußerungen im Keim ersticken, um so etwas wie den Kiewer Maidan-Aufstand 2014 zu vermeiden“, erklärt Politologe Kasakewitsch. „In unserem Sicherheitsapparat herrscht die Meinung, der damals gestürzte ukrainische Staatschef Viktor Janukowitsch habe zu unentschlossen agiert.“Der russische Stalinismus-Forscher Nikita Petrow
sieht hinter den Gewaltexzessen auch einen Neidkomplex. „Die Einsatzpolizisten werden gut bezahlt, aber sie haben Angst vor ihren Kommandeuren. Sie fühlen sich unfrei und hassen gleichzeitig alle, die sich die Freiheit nehmen, gegen das System zu protestieren, das ihn ernährt.“Es gibt in diesen Tagen auch Schönheit. Am Mittwoch und Donnerstag bildeten sich in den belarussischen Städten hell gekleidete Menschenketten, um gegen die Polizeigewalt zu demonstrieren. Meist nahmen sich junge Frauen an den Händen, viele trugen Blumen in der Hand. Männliche Demonstranten wären wohl wieder unter die Polizeiknüppel geraten.