Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Empörung an falscher Stelle
Wer Apfel, Karotte oder Joghurtbecher aus dem Container von Supermärkten fischt, macht sich strafbar. Das hat das Bundesverfassungsgericht am Dienstag geklärt. Die Empörung ist groß. Der eine schmeißt genießbare Lebensmittel weg, die nicht mehr verkauft werden können. Jemand, der dafür noch Verwendung hätte, darf sie nicht nehmen. Das klingt absurd. Den Richtern ging es bei ihrer Entscheidung aber gar nicht um Lebensmittelverschwendung. Sie urteilten juristisch trocken über die Frage, ob auch das Eigentum an wirtschaftlich wertlosen Dingen zu schützen ist. Die Antwort ist Ja. Wer etwas nimmt, ohne dass es ihm gehört, begeht Diebstahl. Daran ist wenig auszusetzen. Zudem wird es in der Praxis wohl nur selten zu Verurteilungen kommen. Nach Ansicht des Verfassungsgerichts gibt das Strafprozessrecht hinreichende Möglichkeiten, der geringen Schuld des Täters Rechnung zu tragen. Eine Einstellung von Verfahren wegen Geringfügigkeit ist möglich.
Doch das Urteil hat neben der juristischen auch noch eine gesellschaftspolitische Ebene. Denn es geht vielen Menschen aus der Container-Szene weniger darum, sich zu bereichern. Sie verstehen sich als Essensretter, als Aktivisten gegen Nahrungsmittelverschwendung. Deswegen ist die Empörung über das Urteil zwar nachvollziehbar, verfehlt aber ihre Wirkung. Der Ärger sollte an anderer Stelle ansetzen. Denn das Grundproblem der 18 Millionen Tonnen Lebensmittel, die laut WWFStudie jedes Jahr in Deutschland weggeworfen werden, lässt sich nicht erst im Container bekämpfen. Es geht etwa um Überproduktion von Lebensmitteln, Geschäfte, die kurz vor Ladenschluss Regale auffüllen, Normen für Gemüse, durch die es etwa die krumme Gurke nicht in den Verkauf schafft. Bis 2030 will die Bundesregierung die Menge verschwendeter Lebensmittel halbieren. Dafür braucht es Regeln, die nicht nur auf Freiwilligkeit der Wirtschaft beruhen. Dass das geht, zeigt das Beispiel Frankreich. Dort ist es dem Handel verboten, genießbare Lebensmittel wegzuwerfen.