Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Endspiel für Lukaschenko
Die Macht des belarussischen Regierungschefs wankt – Niedergeknüppelte Opposition ist wieder in der Offensive
MOSKAU - Nach den anhaltenden Protesten und der internationalen Kritik scheint der Sturz des weißrussischen Staatschefs Alexander Lukaschenko unvermeidlich. Aber niemand weiß, wie lange die Weißrussen dafür noch leiden müssen.
Ales Krasouski, IT-Experte der Minsker Opposition, floh, als er erfuhr, dass er auf einer schwarzen Liste des KGB-nahen Telegramkanals HaraKiri stand. Igor Jermolow, ein Mitstreiter aus dem Stab von Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, war schon verhaftet worden. „Ich habe mich in einen Bus nach Mogiljow gesetzt, kam dort mit einer Frau ins Gespräch, die auch für Tichanowskaja gestimmt hatte.“Sie gab ihm die Telefonnummer eines Mogiljower Regimegegners, der Ales eine sichere Wohnung besorgte. „Unser Stadtteil“, habe der Mann gesagt, „wird nicht mehr von der Polizei, sondern von uns kontrolliert.“Seine Freunde halfen Krasouski, die Grenze nach Russland zu überqueren.
Vergangene Woche schien es, als hätten Alexander Lukaschenkos Polizeikräfte die Straßenproteste gegen seine wohl massiv manipulierte Wiederwahl am 9. August schon niedergeknüppelt. Aber die Opposition hat eine neue Offensive gestartet. Am Wochenende überschwemmten friedliche Demonstranten viele Städte Weißrusslands, in Minsk zählte das Internetportal tut.by über 200 000 Protestierende, ein gutes Zehntel der Hauptstadtbevölkerung. Zahlen, die Diktatoren in der Regel nicht überstehen.
„Lukaschenko hat zwei große Fehler gemacht: Zuerst prahlte er mit einem abstrusen Wahlergebnis von 80 Prozent“, sagt der Transportmanager
Anton aus Gomel, der selbst mehrere Tage im Gefängnis saß. „Und er hat sehr viele junge Leute, auch Teenager, festnehmen und zusammenschlagen lassen.“Damit habe er die Generation ihrer Eltern auf die Barrikaden gebracht.
Selbst im Establishment bröckelt es. Der belarussische Botschafter in der Slowakei Igor Leschtschenja machte öffentlich Front gegen Lukaschenko, ebenso der ehemalige Kulturminister Pawel Latuschko. Vergangene Woche kündigten drei führende Moderatoren des Staatsfernsehens ihre Jobs.
Der Staatschef gerät zur Unperson. Der Oppositionskanal Belsat zeigt eine Serie mit Szenen des deutschen Spielfilms „Der Bunker“über Adolf Hitlers letzte Tage. Aber dieser Hitler jammert, er könne niemanden mehr einsperren, weil alle Gefängnisse in Belarus überfüllt sind, mit einer Stimme, die arg an Lukaschenko erinnert. Dessen Sturz scheint unvermeidlich, aber niemand weiß, wie lange die Weißrussen noch durchhalten müssen. Auch die Arbeiterschaft, die einstige Kernwählerschaft Lukaschenkos, wendet sich ab. Schon am Wochenende zählte Belsat 26 streikende Großbetriebe. Die Arbeiter fordern die Freilassung aller festgenommenen Demonstranten, Pressefreiheit und Neuwahlen.
Allerdings ist unklar, welche der Betriebe, deren Belegschaften sich an den Protesten beteiligen, tatsächlich stillstehen. Nach Angaben der russischen Zeitung Kommersant haben die Raffinerien, die als Schlüsselindustrie gelten, ihre Produktion noch nicht gedrosselt. „Viele Städte werden von einer Großfabrik ernährt, gerade dort fürchten die Arbeiter, dass ihre Familien bei einem Streik sämtliche Einnahmequellen verlieren“, erklärt der Aktivist Jewgeni Medwedew. Ein Oppositionsstab in Moskau hat einen „Fond der Solidarität“gegründet. Er sammelt Spenden in den Diasporas Russlands, Europas und Amerikas, vor allem, um die Streikenden, die Gehalt oder gar Arbeitsplatz riskieren, zu unterstützen. Binnen vier Tagen kam eine Million Dollar zusammen. „Der Konflikt“, so Medwedew, „ist in einer Phase, in der es darum geht, Lukaschenko zu zermürben.“
Noch versucht es Lukaschenko mit seiner alten widersprüchlichen Rhetorik. Streikenden der Minsker Zugmaschinenfabrik stellte er ein Verfassungsreferendum und danach Wahlen in Aussicht, aber vorher dröhnte er: „Ihr müsst mich totschlagen, bevor es Neuwahlen gibt.“
Zweimal telefonierte er am Wochenende mit Russlands Präsident Wladimir Putin, sprach danach von zugesicherter russischer Militärhilfe gegen eine „äußere Bedrohung“. Manche Minsker befürchten, er habe sich bei dem Russen auch Rückendeckung für neue brutale Repressalien gegen die Opposition geholt. „Habt ihr gestern die Kampffahrzeuge hinter dem Palast des Sportes gesehen?“, fragt eine Demonstrantin in einem Telegram-Chat nach der Großdemo in Minsk. „Sie würden uns zu Brei zermalmen, wenn sie den Befehl bekämen.“Offenbar rüstet Lukaschenko sich auch gegen Feinde von außen: Am Dienstagabend wurde bekannt, dass er Truppen an der Westgrenze des Landes zusammenzieht. Er begründete dies mit der angeblich angespannten Sicherheitslage dort.
Der Flüchtling Krasouski sagt, es sei zu früh, von Sieg zu reden. „Dafür müssen erst die eingesperrten Oppositionskandidaten Viktor Babariko und Sergei Tichanowski freikommen. Und Tausende andere Gefangene.“Krasouski entwirft jetzt in Moskau neue Oppositions-Websites. Sein verhafteter Kamerad Igor Jermolow aber wurde unlängst im Arrestzimmer eines Minsker Militärhospitals gefunden – mit gebrochenen Rippen und offenen Schädelverletzungen.