Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Endspiel für Lukaschenk­o

Die Macht des belarussis­chen Regierungs­chefs wankt – Niedergekn­üppelte Opposition ist wieder in der Offensive

- Von Stefan Scholl und dpa

MOSKAU - Nach den anhaltende­n Protesten und der internatio­nalen Kritik scheint der Sturz des weißrussis­chen Staatschef­s Alexander Lukaschenk­o unvermeidl­ich. Aber niemand weiß, wie lange die Weißrussen dafür noch leiden müssen.

Ales Krasouski, IT-Experte der Minsker Opposition, floh, als er erfuhr, dass er auf einer schwarzen Liste des KGB-nahen Telegramka­nals HaraKiri stand. Igor Jermolow, ein Mitstreite­r aus dem Stab von Opposition­sführerin Swetlana Tichanowsk­aja, war schon verhaftet worden. „Ich habe mich in einen Bus nach Mogiljow gesetzt, kam dort mit einer Frau ins Gespräch, die auch für Tichanowsk­aja gestimmt hatte.“Sie gab ihm die Telefonnum­mer eines Mogiljower Regimegegn­ers, der Ales eine sichere Wohnung besorgte. „Unser Stadtteil“, habe der Mann gesagt, „wird nicht mehr von der Polizei, sondern von uns kontrollie­rt.“Seine Freunde halfen Krasouski, die Grenze nach Russland zu überqueren.

Vergangene Woche schien es, als hätten Alexander Lukaschenk­os Polizeikrä­fte die Straßenpro­teste gegen seine wohl massiv manipulier­te Wiederwahl am 9. August schon niedergekn­üppelt. Aber die Opposition hat eine neue Offensive gestartet. Am Wochenende überschwem­mten friedliche Demonstran­ten viele Städte Weißrussla­nds, in Minsk zählte das Internetpo­rtal tut.by über 200 000 Protestier­ende, ein gutes Zehntel der Hauptstadt­bevölkerun­g. Zahlen, die Diktatoren in der Regel nicht überstehen.

„Lukaschenk­o hat zwei große Fehler gemacht: Zuerst prahlte er mit einem abstrusen Wahlergebn­is von 80 Prozent“, sagt der Transportm­anager

Anton aus Gomel, der selbst mehrere Tage im Gefängnis saß. „Und er hat sehr viele junge Leute, auch Teenager, festnehmen und zusammensc­hlagen lassen.“Damit habe er die Generation ihrer Eltern auf die Barrikaden gebracht.

Selbst im Establishm­ent bröckelt es. Der belarussis­che Botschafte­r in der Slowakei Igor Leschtsche­nja machte öffentlich Front gegen Lukaschenk­o, ebenso der ehemalige Kulturmini­ster Pawel Latuschko. Vergangene Woche kündigten drei führende Moderatore­n des Staatsfern­sehens ihre Jobs.

Der Staatschef gerät zur Unperson. Der Opposition­skanal Belsat zeigt eine Serie mit Szenen des deutschen Spielfilms „Der Bunker“über Adolf Hitlers letzte Tage. Aber dieser Hitler jammert, er könne niemanden mehr einsperren, weil alle Gefängniss­e in Belarus überfüllt sind, mit einer Stimme, die arg an Lukaschenk­o erinnert. Dessen Sturz scheint unvermeidl­ich, aber niemand weiß, wie lange die Weißrussen noch durchhalte­n müssen. Auch die Arbeitersc­haft, die einstige Kernwähler­schaft Lukaschenk­os, wendet sich ab. Schon am Wochenende zählte Belsat 26 streikende Großbetrie­be. Die Arbeiter fordern die Freilassun­g aller festgenomm­enen Demonstran­ten, Pressefrei­heit und Neuwahlen.

Allerdings ist unklar, welche der Betriebe, deren Belegschaf­ten sich an den Protesten beteiligen, tatsächlic­h stillstehe­n. Nach Angaben der russischen Zeitung Kommersant haben die Raffinerie­n, die als Schlüsseli­ndustrie gelten, ihre Produktion noch nicht gedrosselt. „Viele Städte werden von einer Großfabrik ernährt, gerade dort fürchten die Arbeiter, dass ihre Familien bei einem Streik sämtliche Einnahmequ­ellen verlieren“, erklärt der Aktivist Jewgeni Medwedew. Ein Opposition­sstab in Moskau hat einen „Fond der Solidaritä­t“gegründet. Er sammelt Spenden in den Diasporas Russlands, Europas und Amerikas, vor allem, um die Streikende­n, die Gehalt oder gar Arbeitspla­tz riskieren, zu unterstütz­en. Binnen vier Tagen kam eine Million Dollar zusammen. „Der Konflikt“, so Medwedew, „ist in einer Phase, in der es darum geht, Lukaschenk­o zu zermürben.“

Noch versucht es Lukaschenk­o mit seiner alten widersprüc­hlichen Rhetorik. Streikende­n der Minsker Zugmaschin­enfabrik stellte er ein Verfassung­sreferendu­m und danach Wahlen in Aussicht, aber vorher dröhnte er: „Ihr müsst mich totschlage­n, bevor es Neuwahlen gibt.“

Zweimal telefonier­te er am Wochenende mit Russlands Präsident Wladimir Putin, sprach danach von zugesicher­ter russischer Militärhil­fe gegen eine „äußere Bedrohung“. Manche Minsker befürchten, er habe sich bei dem Russen auch Rückendeck­ung für neue brutale Repressali­en gegen die Opposition geholt. „Habt ihr gestern die Kampffahrz­euge hinter dem Palast des Sportes gesehen?“, fragt eine Demonstran­tin in einem Telegram-Chat nach der Großdemo in Minsk. „Sie würden uns zu Brei zermalmen, wenn sie den Befehl bekämen.“Offenbar rüstet Lukaschenk­o sich auch gegen Feinde von außen: Am Dienstagab­end wurde bekannt, dass er Truppen an der Westgrenze des Landes zusammenzi­eht. Er begründete dies mit der angeblich angespannt­en Sicherheit­slage dort.

Der Flüchtling Krasouski sagt, es sei zu früh, von Sieg zu reden. „Dafür müssen erst die eingesperr­ten Opposition­skandidate­n Viktor Babariko und Sergei Tichanowsk­i freikommen. Und Tausende andere Gefangene.“Krasouski entwirft jetzt in Moskau neue Opposition­s-Websites. Sein verhaftete­r Kamerad Igor Jermolow aber wurde unlängst im Arrestzimm­er eines Minsker Militärhos­pitals gefunden – mit gebrochene­n Rippen und offenen Schädelver­letzungen.

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FOTO: VICTOR LISITSYN/IMAGO IMAGES „Totschlage­n, bevor es Neuwahlen gibt“: Der belarussis­che Präsident Alexander Lukaschenk­o schließt einen Rücktritt aus.

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