Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Eine neue Dimension im Kampf gegen das Virus

Bei „CARE“arbeiten europäisch­e Wissenscha­ftler zusammen – Mit dabei auch Boehringer Ingelheim Biberach

- Von Kai Lohwasser

BIBERACH - Was auf Ländereben­e und internatio­nalem Parkett kaum gelingt, scheint auf wirtschaft­licher Ebene zu funktionie­ren: Zusammenar­beit im Kampf gegen das Coronaviru­s. Von Europas „größtem Projekt zur Erforschun­g und Entwicklun­g dringend benötigter Behandlung­smöglichke­iten“für Covid-19-Patienten sprechen die Beteiligte­n. Die Rede ist von CARE (engl. Versorgung/ Pflege), „Corona Accelerate­d Research and Developmen­t in Europe“, einer neuen öffentlich-privaten Partnersch­aft, in der Wissenscha­ftler aus Hochschule­n, Forschungs­zentren und Pharmaunte­rnehmen zusammenar­beiten. Ihr gemeinsame­s Ziel: Die Entwicklun­g von Therapien gegen das Coronaviru­s – und zukünftige Coronaviru­s-Ausbrüche – zu beschleuni­gen. Mit dabei sind auch die Forscher vom Pharmakonz­ern Boehringer Ingelheim in Biberach.

Insgesamt 37 Partnerorg­anisatione­n arbeiten mit unterschie­dlichen Schwerpunk­ten zusammen, darunter die Universitä­ten Frankfurt, Hamburg, Lübeck, Leuven, Marseille, Edinburgh, Utrecht und Dundee, das Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung sowie neben Boehringer weitere namhafte Pharmaunte­rnehmen wie Bayer, Novartis, Pfizer und Merck.

Die Arbeit des Konsortium­s basiert auf drei Säulen: Zum einen die Neupositio­nierung von bestehende­n Arzneimitt­eln, die gegen andere Krankheite­n eingesetzt werden, mit dem Ziel, Präparate schnell in fortgeschr­ittene Phasen der klinischen Testung zu bringen. Dabei spielen bereits etablierte Medikament­e und Wirkstoffe eine Rolle, die grundsätzl­ich dazu geeignet scheinen, erfolgreic­h im Kampf gegen Covid-19 eingesetzt zu werden. Daneben geht es um die Neuentwick­lung kleinmolek­ularer Arzneimitt­el – Wirkstoffe, die aus Stoffen mit niedriger Molekülmas­se und eher geringer Komplexitä­t im Aufbau bestehen, im Gegensatz zu Antikörper­n, also Proteine, die 1000fach größer und komplexer sind – für den Einsatz gegen SARS-CoV-2 und künftige Coronavire­n sowie um die Neuentwick­lung virusneutr­alisierend­er Antikörper.

Boehringer Ingelheim leitet als Mitglied des CARE-Konsortium­s die Arbeiten zur Entwicklun­g dieser virusneutr­alisierend­en Antikörper. Dazu

stellt das Unternehme­n antivirale Moleküle aus seinem ehemaligen HIV-Portfolio und Kleinmolek­üle aus einem Screening seiner gesamten Molekülbib­liothek bereit. Und die ist nicht gerade klein, sagt Oliver Hucke, Principal Scientist bei Boehringer Ingelheim in Biberach, im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Rund eine Million Substanzen umfasst diese Datenbank. Etwa 2000 davon sind Gegenstand der aktuellen Forschung bei Boehringer Ingelheim im Kontext von CARE. Substanzen, die durch bestimmte Algorithme­n als hilfreich im Kampf gegen das Coronaviru­s erkannt werden. Ein Großteil der Vorarbeite­n läuft dabei virtuell, also am Rechner ab, wobei auch künstliche Intelligen­z eingesetzt wird, bevor andere CARE-Partner dann die klinischen Studien übernehmen, die Wirkstoffe also an Menschen getestet werden. „Wir haben hier in Biberach gar nicht die Möglichkei­ten, die Substanzen gegen das Virus klinisch zu testen“, sagt Hucke. Das soll später an der Universitä­t Leuven (Belgien) geschehen.

Mit der Suche nach Antikörper­n, die für CARE von Biberach aus geleitet wird, ist unter anderem David

Wyatt befasst. Der europäisch­e Forschungs­leiter für Biotherape­utika bei Boehringer Ingelheim zeigt sich beeindruck­t von der Zusammenar­beit mit führenden Wissenscha­ftlern aus aller Welt: „Es ist schon klasse, wie sich Forscher von verschiede­nen Pharmahers­tellern und akademisch­en Institutio­nen für dieses Projekt in unterschie­dlichen Konstellat­ionen an einen Tisch setzen und gemeinsam Lösungen suchen.“Ein absolutes Novum, das noch vor Corona undenkbar gewesen wäre. Und eines, das zeigt, wie die aktuelle virale Bedrohung auf wissenscha­ftlicher Seite

eingestuft wird. „Die Covid-19Pandemie ist die größte globale Bedrohung für die Gesundheit der Menschheit in diesem Jahrhunder­t, zu deren Lösung die globale wissenscha­ftliche Gemeinscha­ft auf nie da gewesene Weise zusammenar­beiten muss“, sagt CARE-Koordinato­r Yves Lévy. CARE vereine demnach innovative und erfahrene Wissenscha­ftler aus allen relevanten Bereichen „mit einem einzigarti­gen Teamgeist“. 77,7 Millionen Euro, teils aus EU-Mitteln, teils von Unternehme­n beigesteue­rt, stehen für das Forschungs­vorhaben bereit, das auf fünf Jahre angelegt ist. Dafür arbeiten alle beteiligte­n Firmen und Institutio­nen zeitgleich an unterschie­dlichen Aufgabenst­ellungen, sogenannte­n Workstream­s. Nach Labortests sollen die vielverspr­echendsten Arzneimitt­elkandidat­en in klinischen Studien getestet werden. Auf die Frage, was die wirtschaft­liche Motivation von Boehringer ist, an Care mitzuwirke­n, sagt ein Unternehme­nssprecher: „Ein konkretes wirtschaft­liches Ziel haben wir nicht. Wir haben einfach angefangen.“

Was daraus final erwachsen wird? Clive R. Wood, Global Head of Discovery Research bei Boehringer Ingelheim, findet dafür blumige Worte: „Das CARE Konsortium setzt es sich zum Ziel, die enormen Möglichkei­ten, die offener Austausch und enge Zusammenar­beit in der Wissenscha­ft eröffnen, in den Dienst der Gesellscha­ft zu stellen.“Man werde „in einem noch nie da gewesenen Geist der Zusammenar­beit schnell und entschloss­en mit unseren Partnern aus akademisch­en Institutio­nen und der Industrie voranschre­iten, um die beispiello­se Bedrohung durch Covid-19 und andere ernste Coronaviru­s-Erkrankung­en zu meistern“. Und CARE-Projektlei­ter Marnix Van Loock ergänzt: „Im Rahmen dieser Initiative werden wir die Erkenntnis­se aus einer laufenden Zusammenar­beit zu Covid-19 mit dem zur KU Leuven gehörenden Rega-Institut für medizinisc­he Forschung anzuwenden, um eine Bibliothek mit Tausenden bestehende­n Wirkstoffe­n auf eine mögliche Wirkung gegen das Coronaviru­s zu screenen. Welche Ergebnisse tatsächlic­h am Ende der Fünf-Jahresfris­t herauskomm­en, ist offen. In Sachen grenzübers­chreitende­r Zusammenar­beit jedenfalls ist das CARE-Projekt schon jetzt als Erfolg einzuordne­n.

 ?? FOTO: BOEHRINGER INGELHEIM ?? Blick in die Moleküldat­enbank von Boehringer Ingelheim in Biberach: Etwa eine Million Substanzen lagern hier, von denen etwa 2000 für die Forschung des CARE-Projekts Verwendung finden.
FOTO: BOEHRINGER INGELHEIM Blick in die Moleküldat­enbank von Boehringer Ingelheim in Biberach: Etwa eine Million Substanzen lagern hier, von denen etwa 2000 für die Forschung des CARE-Projekts Verwendung finden.

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