Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Zeitreise im Pfauenwagen
Virtuelles Abenteuer führt durch 7000 Jahre bayerische Geschichte
Der schnellste Weg aus der Münchener Altstadt zum Schloss Neuschwanstein? Nein, es sind weder A 95, A 96 noch die Eisenbahnstrecke gemeint. Heute treten wir die Reise zur Burg des Märchenkönigs virtuell an – praktischerweise sparen wir uns so auch noch den steilen Aufstieg und die Besuchermassen. Nur wenige Gehminuten vom Hofbräuhaus und Viktualienmarkt entfernt liegt zwischen Marienplatz und Isartor die TimeRide-Geschäftsstelle. Dort soll eine virtuelle Reise nicht nur blitzschnell an verschiedene Orte Bayerns führen, sondern auch im Schnelldurchlauf durch 7000 Jahre Geschichte.
So manche Zeitreise mag über einen DeLorean oder eine Telefonzelle zu bewerkstelligen sein, in München jedoch kommt der Pfauenwagen zum Einsatz. In Blau und Gold gehalten besteht er aus einem Heißluftballon und einer prunkvoll gestalteten Gondel in Form eines Pfaus. Vorne der stolze gereckte Hals des Vogels, hinten die zum Rad geschlagenen, filigranen Goldfedern. Inspiration für das Vehikel liefert Ludwig II. Um sein kurzes Leben und seinen frühen Tod im Starnberger See ranken sich unzählige Legenden. Unbestritten ist, dass der Märchenkönig mit Schlössern wie Herrenchiemsee, Linderhof und natürlich allen voran Neuschwanstein imposante Bauwerke errichten ließ, die jährlich Hunderttausende Besucher anziehen. Der König hat sich nicht nur für Kunst, sondern auch für Technik begeistert. Gerne hätte der Kini in einer Pfauengondel per Seilbahn den Alpsee überquert. Seinen Ingenieuren ist es im 19. Jahrhundert nicht gelungen, diesen Wunsch zu erfüllen – allerdings der Fantasie und der Fertigkeit der 3-D-Künstlern des 21. Jahrhunderts. So überfliegt heute der Pfauenwagen nicht nur den See, sondern ganz Bayern.
Bevor wir in digitale Welten eintauchen, empfängt uns Bernd, unser Zeitreisebegleiter aus Fleisch und Blut, stilsicher in brauner Cordhose, weißem Hemd und königlich-blauer Weste. Auf seinem Hut thronen Fliegerbrille und Pfauenfeder. Pandemiegerecht wird das Ensemble von einer gepunkteten Maske abgerundet. Zunächst führt er ins kleine Kino.
Der Blick hinter die Kulissen gibt Aufschluss darüber, wie 3-D-Künstler, Historiker, Filmkomponist und Orchester die kurzweilige Zeitreise geschaffen haben.
Weiter geht es nach oben in die magische Bibliothek, in der, so die Idee, die hinter TimeRide steckt, auch Ludwig II. Zuflucht suchte. 1854 auf Schloss Nymphenburg geboren, hat der junge Prinz statt Wärme und Zuneigung Kälte und Ablehnung erfahren. Bücher geben dem jungen
Prinzen die Möglichkeit, sich in vergangene Zeiten zu träumen. Wie von Zauberhand erscheinen auf den sepiagefärbten Buchseiten animierte Tintengemälde. Hier keimt schon eine erste Ahnung darüber auf, was den Zeitreisenden im Laufe der Epochen erwarten wird: über die Jungsteinzeit, zum Römische Reich, hin zur Zeit Karls des Großen und Barbarossas, zum ersten Oktoberfest 1810 und Schloss Neuschwanstein. Eine Geheimtür führt aus der Bibliothek
und in Richtung 16-minütiger Zeitreise.
Fast ein bisschen thronartig wirken die Sessel für die Zeitreisenden. Um in die virtuelle Realität (VR) einzutauchen, braucht es eine entsprechende Brille, die nicht nur Bilder, sondern dank eingebautem Kopfhörer den zugehörigen Soundtrack liefert. Die Sitznachbarin versichert, dass diese auch für Brillenträger problemlos sei. Und schon heißt es zurücklehnen und sich vom Piloten Georg Aloisius Linnebach auf die rasante Reise mitnehmen lassen.
Ob nach links, rechts, unten oder oben: Die virtuelle Welt erstreckt sich wie die echte zu allen Seiten. Fahrtwind und Vibrationen verstärken das Flugerlebnis. Aus der Vogelperspektive beobachten wir die römischen Legionäre am Limes und den Angriff der Alamannen. Links rattern die Jahreszahlen weiter und schon schauen wir beim Bau des Bamberger Doms zu. Zwischendurch darf der Fokus auch auf der reizvollen bayerischen Landschaft liegen: Wir überfliegen Höhenzug um Höhenzug der majestätischen Alpen. Das tiefblaue Wasser im Königssee macht Lust auf eine erfrischende Abkühlung. Aber noch bevor wir uns Gedanken über die virtuelle Badebekleidung machen müssen, sind wir auch schon bei der Hochzeit von Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen und Kronprinz Ludwig von Bayern angekommen. Auf der Theresienwiese bei München ließen sie sich im Oktober 1810 tagelang feiern. Zum krönenden Abschluss wurde ein Pferderennen veranstaltet. Da galoppieren edle Rösser im großen Rund. Um einen besseren Blick zu bekommen, zieht der Pilot nach unten und versucht, mit den Pferden mitzuhalten, bevor es ein paar Jahre weitergeht.
Unter uns rattert die erste deutsche Eisenbahn. Der in Newcastle gebaute „Adler“zieht am 7. Dezember 1835 neun Wagons mit 200 Passagieren. Viele Schaulustige säumen die sechs Kilometer lange Strecke zwischen Nürnberg und Fürth. Und ehe wir es uns versehen, haben wir schon Schloss Neuschwanstein vor Augen – virtuelles Feuerwerk inklusive.
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