Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wer wann und warum in der NSDAP war
Jürgen W. Falter zählt Hitlers Parteigenossen und findet die Kriegskinder stark vertreten
Es gibt Worte, die haben sich fest mit Personen verbunden. So der Begriff „Faszinosum“mit dem ehemaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger, der so die Erfolge Adolf Hitlers in den Jahren 1933 bis 1938 bezeichnet hatte. Man kann streiten, ob der Begriff klug gewählt war, wenn der Redner zum Ausdruck bringen wollte, Hitler sei immer noch ein Rätsel, das zum Nachdenken und Nachfragen anrege.
Das Hausmittel gegen unscharfe Begrifflichkeit ist eine Geschichtswissenschaft, die sich quantifizierender Methoden bedient. Etwa wenn sie erkundet, wer Hitlers Wähler und Parteigänger waren. Für beide Themen gibt es einen Spezialisten, der im Fernsehen mit einem anderen Thema populär geworden ist: Jürgen W. Falter, Politikwissenschaftler an der Universität Mainz. Er wurde und wird gerne gefragt, wenn Wahlergebnisse und Wählerwanderungen in der Bundesrepublik zu deuten sind. 1991 hat er ein Buch über „Hitlers Wähler“vorgelegt, jetzt eines zu „Hitlers Parteigenossen“.
Der Wert solcher Untersuchungen besteht darin, dass nach der Lektüre das Faszinosum nicht mehr rätselhaft ist. Falter richtet seine Bücher nicht so sehr an Fachkollegen, sondern an eine „historisch interessierte Leserschaft“. Er verfügt über eine Ausdrucksfähigkeit, die all das, was man aus den 160 Tabellen des Buches destillieren kann, so leicht verständlich erklärt, als säße man mit ihm in einem Weinlokal. Als Service ordnet er seine Arbeit in das Forschungsfeld ein, sodass man auf den Stand der Diskussion gebracht wird.
Nicht nur das: Aus dem Forschungsstand ergeben sich auch die Fragen, die Falter an sein Datenmaterial stellt. Und da steckt der Teufel im Detail. Schon der Zustand der Mitgliederlisten der NSDAP ist alles andere als simpel. Ebenso die Parteigeschichte. Die NSDAP nahm nicht kontinuierlich Mitglieder auf, mal wurde sie verboten und fing danach wieder von vorne an, mal ordnete sie, weil sie sich 1933 überrannt fühlte, einen Aufnahmestopp an, mal legte sie – erstmals in der Parteiengeschichte – eine Frauenquote fest. Es waren aber erst die Kriegsjahre, die den Frauenanteil in der NSDAP über zehn Prozent brachten.
Hitler selbst wollte keine Massenpartei, sondern eine revolutionäre Elite, die „Ehre und Ruhm der Nachwelt“anstrebt. Er fürchtete den Zulauf von Opportunisten auf Pöstchensuche, für die sich die Parteiführung allerlei blumige Begriffe (Märzgefallene, Neophyten) ausdachte. Ein Schlüssel von eins zu zehn, also ein Parteimitglied auf zehn Deutsche, schien Hitler gerade recht. Diesen Wert hat die NSDAP dann auch erreicht. Zwischen 1919 und 1945 schlossen sich ihr circa zehn Millionen an.
Falter hat daraus einen Datensatz von 50 000 Parteimitgliedern untersucht. Das ist die üppigste Ausgangsbasis auf diesem Forschungsfeld bisher. Der Umgang damit braucht Erfahrung. Der Datensatz gibt von sich aus keine Geheimnisse preis. Er ist vielmehr ein Werkzeug, um Thesen über den Nationalsozialismus zu testen. War der Nationalsozialismus das Resultat einer Radikalisierung der politischen Mitte? Oder das Sammelbecken randständiger, sozial entwurzelter Individuen? Gab es Milieus, die resistent waren?
Auf solche Fragen gibt Falter immer die eine Antwort: Es ist alles „viel komplexer“. Er macht auf zeitliche Differenzierungen aufmerksam, indem er die Mitgliederentwicklung in den unterschiedlichen Phasen der Partei einzeln untersucht. Nur die bewährte These vom Unterschied der Konfessionen findet Falter tatsächlich noch bis zum Kriegsende 1945 bestätigt. Aber dieser Unterschied wird geringer. Im Unterschied zu den Protestanten, für die seit je die Landesherren nicht nur als weltliches, sondern auch als geistliches Oberhaupt zu respektieren waren, hatte der Katholizismus eine klare politische Widerstandskraft in den 1920er-Jahren, als Diözesen ihren Gläubigen ein Engagement bei den Nationalsozialisten untersagten. Aber das Abstandhalten begann zu schwinden, als Hitler Ende Januar 1933 Reichskanzler wurde und dann im März die Reichstagswahl gewann.
Das war auch der Zeitpunkt, als Angestellte im öffentlichen Dienst und Beamte, die bis dahin Distanz gewahrt hatten, nun, wie Hitler befürchtet hatte, die Mitgliederlisten der NSDAP zu fluten begannen. Und auf Dauer blieben. Eine Tabelle sortiert, schön nach Berufen aufgefächert, die Mitglieder, die aus der Partei ausgetreten sind. Der öffentliche Dienst aber kam und blieb. Unter den NSDAP-Mitgliedern waren 62 Prozent Beamte, 20 Prozent unter ihnen traten zwischen Februar und März 1933 ein. Im April folgte der Aufnahmestopp.
Bei der Arbeiterschaft differenziert sich das Bild auf andere Weise. Selbst wenn Falter die gewerkschaftlich gut aufgestellte Industrie in Großstädten wie Berlin oder Wien ins Visier nimmt, findet er interessante Unterschiede, je nachdem, ob die Arbeiter einem export-orientierten Unternehmen angehören oder einem, das für den heimischen Markt produziert. Letztere konnten sich ausrechnen, von Hitlers AutarkieKurs zu profitieren.
Aber dann serviert das Buch doch eine Überraschung: Gegenüber all solchen Versuchen, wie sie bisher schon unternommen wurden, nämlich den Nationalsozialismus soziologisch zu ergründen, nach Status und Beruf, nach Stadt und Land, Nord und Süd, Geschlecht, Familienstand oder Schulabschluss, serviert der große Datensatz ein Ergebnis, das Falter selber überrascht hat. Die NSDAP, die bislang als eine breit aufgestellte Volkspartei mit einem „Mittelstandsbauch“beschrieben wurde, erweist sich weit deutlicher als erwartet als eine Generationenpartei, in der die Kriegskinder des Ersten Weltkriegs überrepräsentiert sind.
Die These von der Generationenpartei stammt aus den 1970er-Jahren und hat einen psychologischen Kern. Sie zielt auf die Menschen, die zwischen 1900 und 1915 geboren sind, also am Ersten Weltkrieg nicht teilgenommen haben, daher eine zahlenmäßig starke, aber auch stark traumatisierte Generation darstellen. Die Erfahrung der lebensbedrohlichen Hungerphase zum Kriegsende unterscheidet die Kinder dieser Zeit im Habsburger und im Deutschen Reich (und hier vor allem in den Städten) von ihren Altersgenossen in Frankreich und England. Sie erleben das Ende der politischen Ordnung zugleich als Zerstörung ihrer Familien. Und auch ihrer Lebenschancen. Denn sie sind es, die von Arbeitslosigkeit und Inflation der 1920er-Jahre vornehmlich betroffen werden.
Die These von der Prägung des Nationalsozialismus durch die Lebenserfahrung der Kriegskinder (bislang hatte man eine Prägung durch Hitlers Frontkämpfergeneration angenommen) hat in den sozialwissenschaftlich argumentierenden Thesen zum Nationalsozialismus keine große Rolle gespielt. Sie ist allerdings durchaus eine Ader in der Auseinandersetzung mit dieser Zeit. Falter weist auf Sebastian Haffner hin, der schon 1939 bei seiner Analyse des Nationalsozialismus eine Generationenthese für die Jahrgänge von 1900 bis 1910 formuliert hatte.
Einen knappen Hinweis sendet Falter auch in Richtung Literatur. Schaut man etwa in Helmuth Kiesels „Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918-1933“, die 2017 erschienen ist, findet man reichlich Material zur Politisierung und Radikalisierung der Literatur in den Krisenjahren. Und Ulrich Herberts brillante Biografie des auskunftsfreudigen NS-Juristen Werner Best (1903-1989) erhält durch die Generationenthese ihre Repräsentativität.