Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Der Tod in der Polizeizel­le

2019 starben ungewöhnli­ch viele Menschen in Haft – Innenminis­terium will Fälle verhindern

- Von Katja Korf

STUTTGART - Sechs Menschen sind im vergangene­n Jahr in einer Polizeizel­le gestorben – einer davon in Spaichinge­n. Ungewöhnli­ch viele, gibt auch das Innenminis­terium zu. Die Behörde möchte solche Fälle in Zukunft verhindern.

Die gute Nachricht: Im laufenden Jahr gab es bislang nur einen solchen Todesfall in Mannheim. Polizisten im Land nehmen pro Jahr rund 12 500 Menschen in Gewahrsam. Sie landen hinter Gittern, weil sie betrunken sind, unter Drogeneinf­luss stehen oder einer Straftat verdächtig­t werden. 2019 häuften sich die Todesfälle in den Zellen. Zunächst starben kurz hintereina­nder zwei Männer in Stuttgart, weitere vier folgten in anderen Polizeiste­llen. Alle waren betrunken. So stürzte etwa in Spaichinge­n ein alkoholisi­erter Mann von einer Liege in der Zelle, bekam Nasenblute­n und erstickte daran. Zuvor hatte ihm laut Innenminis­terium ein Arzt attestiert, dass er „gewahrsams­fähig“war – also aus medizinisc­her Sicht keine akute Gefahr bestand.

Das baden-württember­gische Innenminis­terium hat alle sechs Fälle untersucht. „In keinem der genannten Fälle konnte ein Fehlverhal­ten der Polizei beziehungs­weise der untersuche­nden Ärztinnen/Ärzte festgestel­lt werden“, erklärt ein Sprecher von Minister Thomas Strobl (CDU) zu den Ermittlung­sergebniss­en.

Allerdings lässt sich nicht feststelle­n, ob solche Todesfälle in den vergangene­n Jahren zugenommen haben. Denn das Innenminis­terium führte bislang keine Statistik darüber. Mittlerwei­le erfasst das Ministeriu­m die Umstände. Darauf hatte unter anderem die FDP gedrängt. Deren Innenexper­te Ulrich Goll lobt: „Es ist gut, dass nun alle Todesfälle und die wesentlich­en Begleitums­tände statistisc­h erfasst werden. So erhält man einen Überblick über das Ausmaß und kann Verbesseru­ngen zielgerich­tet vornehmen. Die statistisc­he Erfassung sollte dauerhaft beibehalte­n werden.“

Ob es dazu kommt, ist offen. Auf Anfrage der FDP antwortet das Ministeriu­m, es handle sich um eine „temporäre statistisc­he Erfassung“. Grund sei die „atypische Häufung“im Jahr 2019. Wichtiger als eine Statistik sei jedoch, jeden Einzelfall genau zu prüfen und daraus Konsequenz­en abzuleiten. Eine davon:

Möglichst alle Zellen im Land sollen mit Videokamer­as überwacht werden. Von 612 Hafträumen verfügen laut Ministeriu­m 455 und damit 74 Prozent über diese Technik. Der Anteil soll steigen. Allerdings gab es auch in jenen Zellen Videoüberw­achung, in denen sich die Todesfälle 2019 ereigneten. Außerdem gab es dort Gegensprec­hanlagen.

Deswegen fordern Experten weitere Maßnahmen, um Todesfälle zu vermeiden. Der Wissenscha­ftler Steffen Heide hat Todesfälle in Zellen untersucht. Deutschlan­dweite Statistike­n lägen nicht vor. Studien dazu seien schwierig, weil die Behörden mauerten. Er hat Anfang der 2000er-Jahre rund 60 Fälle ausgewerte­t. Sein Fazit: Bei größerer Sorgfalt

hätten zwei Drittel der Opfer überleben können.

Haben Polizisten Zweifel am Gesundheit­szustand eines Festgenomm­enen, müssen sie einen Arzt hinzuziehe­n. Die Polizei hat Verträge mit Medizinern und Kliniken, die Betroffene untersuche­n. Laut Innenminis­terium werde „beim überwiegen­den Teil“der Betrunkene­n oder Berauschte­n ein Arzt hinzugezog­en, 2018 geschah dies in 66 Prozent aller Gewahrsams­fälle. Doch Polizeibea­mte sind keine Mediziner und erkennen möglicherw­eise nicht, wie schlecht es einem Menschen geht.

Selbst Mediziner tun sich schwer, jeden kritischen Fall zu entdecken. Woran das liegt, beschreibt der Stuttgarte­r Notfallmed­iziner Rainer Hakimi

in der Zeitschrif­t der Gewerkscha­ft der Polizei (GdP). Ob ein Betrunkene­r drohe, ins Koma zu fallen, variiere von Person zu Person und lasse sich nicht allein am Blutalkoho­lwert ablesen. Vorerkrank­ungen, die Gewöhnung an Alkohol und viele andere Faktoren spielten eine Rolle. „Erschweren­d kommt hinzu, dass man bei den meisten Betrunkene­n eine eingehende Anamnese, die Vorerkrank­ungen und Trinkverha­lten einschließ­en, gar nicht durchführe­n kann, weil die Betroffene­n entweder unwillig und unwirsch oder aggressiv sind oder die entspreche­nden Angaben inhaltlich nicht glaubhaft oder nicht verwertbar sind“, warnt Hakimi. Selbst wenn ein Arzt die Betroffene­n gründlich und kompetent untersuche, könne er den weiteren Verlauf falsch einschätze­n. „Aus diesen Gründen sind die meisten Ärzte nicht bereit, Gewahrsams­fähigkeits­Untersuchu­ngen überhaupt durchzufüh­ren“, so Hakimi.

Das Innenminis­terium hat daher eine Untersuchu­ng in Auftrag gegeben. Notfallmed­iziner und Experten der Polizeihoc­hschule prüfen, welche Hilfen sie den Ärzten an die Hand geben können. So solle der „Nichtentde­ckungsquot­e von Vorerkrank­ungen bzw. Vorverletz­ungen“begegnet werden, schreibt das Ministeriu­m.

Mediziner monieren außerdem die schlechte Bezahlung. Sie decke den Aufwand einer gründliche­n Untersuchu­ng nicht ab. Dazu schreibt das Innenminis­terium, jedes Polizeiprä­sidium treffe dazu eigene Vereinbaru­ngen mit Kliniken und Ärzten – orientiere sich aber an der ärztlichen Gebührenor­dnung.

Einige Experten setzen ihre Hoffnung auf Systeme, die etwa die Herzfreque­nz eines Festgenomm­enen automatisc­h messen und im Notfall Alarm schlagen. Polizisten müssen die Gefangenen zwar regelmäßig kontrollie­ren – je nach Gesundheit­szustand aber mindestens alle zwei Stunden.

Das Landeskrim­inalamt hat geprüft, ob Technik helfen könnte. „Derzeit sind keine für die Zwecke der Polizei adaptierba­ren Systeme am Markt verfügbar“, schreibt die Behörde. Für FDP-Innenexper­te Goll reicht das nicht: „Bei der Entwicklun­g von Systemen zu einer Beobachtun­g der Vitalfunkt­ionen brauchen wir mehr Schwung als bisher.“Allerdings ist er sich mit Medizinern und Wissenscha­ftlern einig: Ganz verhindern lassen sich einzelne Todesfälle nicht.

 ?? FOTO: UWE ANSPACH/DPA ?? Polizisten im Land nehmen pro Jahr rund 12 500 Menschen in Gewahrsam.
FOTO: UWE ANSPACH/DPA Polizisten im Land nehmen pro Jahr rund 12 500 Menschen in Gewahrsam.

Newspapers in German

Newspapers from Germany