Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ein Abschied für immer
Große Storchenkolonie in Zußdorf löst sich auf – Die Jungtiere kommen niemals zurück
WILHELMSDORF - Familiendramen, Verkehrsunfälle und verlorene Kinder – alles Schicksale, die auch in der Storchenwelt zu finden sind. Doch zuerst die Vorgeschichte. Wie bereits berichtet, hatten sich im Frühjahr acht Storchenpaare dazu entschlossen, ihren Nachwuchs in diesem Jahr in Zußdorf auszubrüten. Dazu bauten die Großvögel im Dorfzentrum teilweise akrobatisch konstruierte Horste auf Hausdächer und Verteilermasten. Warum sie sich ausgerechnet Zußdorf ausgesucht hatten, kann an vielen Faktoren liegen. Neben dem Nahrungsangebot im Umfeld spielen eine gute Thermik, ebenes Gelände und die vielen Nistmöglichkeiten im Dorf eine große Rolle.
Nun war man im Zocklerland natürlich gespannt, wie die Brut gelingt. Tatsächlich erspähten die vielen interessierten Beobachter 22 geschlüpfte Jungvögel, von denen es aber leider nur zehn schafften, bis zur Flugfertigkeit zu überleben. Grund der hohen Verluste, so die Leiterin des Wilhelmsdorfer Naturschutzzentrums, Pia Wilhelm, war dieses Jahr weniger das schlechte Wetter, sondern eher das unzureichende Nahrungsangebot in unmittelbarer Nestnähe, welches von den vielen Erstbrütern wohl überschätzt wurde.
Jungvögel benötigen täglich etwa die Hälfte ihres Gewichtes an Nahrung. Die Elterntiere müssen die junge Brut vor Greifvögeln beschützen und sind deshalb abwechselnd, aber permanent auf der Futtersuche und versorgen ihren Nachwuchs etwa 15mal pro Tag mit bis zu vier Kilogramm an Beutetieren, meist Würmer und Insekten. Allein diese laufenden Fütterungen und „Wachablösungen“sind ein Spektakel mit viel Geklapper und Gekreische, welches die Zuschauer in Staunen versetzt, gepaart mit großem Respekt vor dem unbändigen Antrieb, mit dem die Eltern versuchen, ihren zahlreichen
Nachwuchs ausreichend zu versorgen.
Manchmal kommen noch Familiendramen und Unfälle dazu. So wurde ein Vaterstorch durch ein Auto tödlich verletzt. Das Witwen-Weibchen entschloss sich nach zwei Tagen „Trauer“und vergeblichem Warten auf ihren Partner, den Nachwuchs allein aufzuziehen und schaffte es tatsächlich, zwei ihrer vier Storchenkinder durchzubringen. Ein anderes, noch flugunfähiges Storchenkind fiel unglücklich aus dem Nest, was normalerweise einem Todesurteil gleichkommt. Pia Wilhelm erfuhr davon und brachte das Storchenkind ins Vogelschutzzentrum nach Mössingen, wo es bis zur Flugfertigkeit aufgepäppelt wurde.
Im Alter von vier bis sechs Wochen werden die Jungstörche beringt, sofern das gefahrlos mit einer Drehleiter der Feuerwehr möglich ist. Erreicht man das Nest, stellen sich die noch flugunfähigen Jungen aus Reflex tot und können beringt werden. Die Alten fliegen derweil in die Nähe und protestieren laut. Durch die Beringung konnten auch die meisten der Elternstörche in Zußdorf identifiziert werden, sie stammen aus dem Bodenseeumkreis, zum Beispiel aus der Salemer Kolonie vom Affenberg, aber auch aus der Schweiz und Frankreich.
Die Jungstörche haben sich bereits im August in den Süden verabschiedet. Sie fliegen in „Thermikschläuchen“, das offene Meer vermeidend, als „West-Zieher“über Spanien und Gibraltar in die nördliche Sahara. Störche, die weiter östlich geboren werden, ziehen als „OstZieher“über den Bosporus bis nach Ostafrika und legen dabei bis zu 10 000 Kilometer zurück. Sie werden erst nach ihrer Geschlechtsreife in zwei bis drei Jahren zu ihrer ersten Familiengründung in die Heimat zurückkommen.
Die Zußdorfer werden die Jungstörche nicht mehr sehen, da Störche nie an ihren Geburtstort zurückkommen. Trotzdem hofft man im Zocklerland, dass möglichst viele von ihnen die Reisestrapazen überleben und von weiteren Unfällen verschont werden. Wo genau sie dann in zwei bis drei Jahren ihre ersten Brutversuche starten, kann man, so sie beringt wurden, vielleicht auf der Webseite www.stoerche-oberschwaben.de der Tübinger Naturschutzbehörde nachlesen.