Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Misstrauen ist angebracht
Wie einschneidend muss sich die Wirtschaft zugunsten des Klimaschutzes wandeln und nach welchen Kriterien werden die Fördermilliarden verteilt? Die politische Auseinandersetzung darüber hat längst begonnen. Noch im Januar sprach sich eine Mehrheit im Europaparlament dafür aus, Subventionen für fossile Brennstoffe noch in diesem Jahr auslaufen zu lassen. Am Mittwoch hingegen entschied das Plenum vor dem großen Auftritt der Kommissionspräsidentin, dass aus dem 17,5 Milliarden Euro schweren „Gerechtigkeitsfond“, der die Abnabelung von fossilen Energieträgern in besonders stark davon abhängigen Regionen abfedern soll, auch Gasprojekte bezuschusst werden dürfen. Damit stellt sich eine Mehrheit gegen die zuvor von Kommission und Ministerrat vereinbarten Grundsätze.
Das Europaparlament gerät immer dann ins Stolpern, wenn es vollmundig verabschiedete Ziele in Zumutungen umsetzen soll, die bis auf Wahlkreisebene Wirkung zeigen. Es ist eben ein Unterschied, ob man für 55 Prozent weniger CO2 den Finger hebt oder zusehen muss, wie in der eigenen Region energieintensive Betriebe die Pforten schließen. Diese Anbindung der Abgeordneten an die Bedürfnisse und Lebensbedingungen ihrer Wähler macht sie zu einem wichtigen Regulativ der Brüsseler Bürokratie. Gemeinsam mit den Mitgliedsstaaten wird das Parlament dafür sorgen, dass der Strukturwandel weniger drastisch ausfällt.
Die EU-Kommission malt zwar die Umstellung auf eine CO2-neutrale Wirtschaft immer wieder in rosigen Farben und sieht nur Gewinner. Doch selbstverständlich wird eine so beschleunigt betriebene Modernisierung viele Arbeitsplätze kosten, bevor sie neue entstehen lässt. Die von der Kommission in Auftrag gegebene Studie, die die Auswirkungen unterschiedlich strenger CO2-Ziele auf das Wirtschaftswachstum durchrechnet, hätte eigentlich vorliegen sollen, bevor die Chefin eine Erhöhung des Etappenziels verkündet. Dass sie zum Zeitpunkt der Rede von der Leyens noch nicht veröffentlicht war, stimmt misstrauisch.