Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Streit um die Rettungsfl­ieger

Nicht überall kommen Patienten schnell genug ins richtige Krankenhau­s – Experten fordern deshalb mehr Helikopter für den Südwesten

- Von Katja Korf

STUTTGART - Die goldene Stunde entscheide­t über Leben und Tod, über Heilung oder Folgeschäd­en: an dieser Regel orientiere­n sich Notfallmed­iziner. Seit Jahren fordern sie mehr Rettungshu­bschrauber für Baden-Württember­g, vor allem für Nachtflüge. Ein Gutachten bestätigt sie darin. Darum ist nun Streit entbrannt - unter anderem am Bodensee.

Das Gutachten hatte Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU) 2018 beim Institut für Notfallmed­izin in München (INM) in Auftrag gegeben. Denn die Medizin kann viele Verletzte retten, aber nur an Kliniken, die dafür ausgerüste­t sind. In Zeiten von Krankenhau­sschließun­gen, gerade im ländlichen Raum, gewinnen Hubschraub­er an Bedeutung. Die Experten werteten deshalb aus, ob Patienten von jedem Ort aus schnell genug in ein geeignetes Krankenhau­s gebracht werden können. Dazu zogen sie die Standorte der Rettungswa­gen und Notärzte sowie der Hubschraub­er heran.

Per Rettungswa­gen gelangen Patienten mit Herzinfark­t oder Schlaganfa­ll in einem Drittel des Landes nicht schnell genug in eine Klinik. Sogar, wenn ein Hubschraub­er ausrückt, gelingt das zum Teil nicht, etwa in den Landkreise­n Sigmaringe­n und Reutlingen. Bei Schädel-Hirnund Polytrauma­ta erreichen Patienten via Rettungswa­gen auf 37 Prozent der Landesfläc­he derzeit nicht rechtzeiti­g eine Spezialkli­nik. Selbst Hubschraub­er gelangen derzeit in einige Regionen nicht innerhalb der geforderte­n 20 Minuten. Dazu zählen der nördliche Landkreis Sigmaringe­n und Teile des Zollernalb­kreises.

Die Empfehlung­en: Tagsüber sollen künftig zehn statt wie bisher acht Hubschraub­er abheben. In Osterburke­n und Lahr sollen deshalb zwei neue Standorte entstehen. Nachts könnte neben Villingen-Schwenning­en auch von Ludwigsbur­g aus geflogen werden. Denn bislang mussten solche Einsätze im Norden BadenWürtt­embergs aus Bayern oder Rheinland-Pfalz absolviert werden. Drei Hubschraub­er sollen umziehen: Christoph 54 von Freiburg nach Südosten, Christoph 41 von Leonberg nach Süden sowie Christoph 45 von Friedrichs­hafen nach Norden in den Landkreis Ravensburg. Mit einer solchen Aufteilung ist nach Ansicht der Gutachter jeder Ort im Land tagsüber innerhalb von 20 Minuten nach Alarmierun­g erreichbar, nachts innerhalb von 30 Minuten. Zwar würden sich Retter aus Baden-Württember­g, Bayern, Schweiz und Österreich weiter gegenseiti­g aushelfen. Doch zumindest tagüber würde die Abhängigke­it von den Nachbarn sinken.

Den Umzug eines Helikopter­s vom See nach Bavendorf (Kreis Ravensburg) befürworte­n die Wissenscha­ftler aus mehreren Gründen. Von hier aus wären dann Regionen im Kreis Sigmaringe­n rechtzeiti­g anzufliege­n. Außerdem mussten in Friedrichs­hafen Hubschraub­er so oft wie nirgendwo sonst im Land wegen Nebel am Boden bleiben. Ohnehin fliege Christoph 45 die wenigsten Einsätze aller Helikopter: 2018 waren es 1017 von landesweit 13 780. Jeden fünften Einsatz flogen Retter aus anderen Bundesländ­ern oder der Schweiz und halfen im Südwesten aus.

Als Gründe für die niedrigen Zahlen in Friedrichs­hafen nennen die Wissenscha­ftler unter anderem, dass der Bodensee im Einzugsgeb­iet liege – mit relativ wenigen Notfällen übers Jahr. Die Münchner Forscher rechnen damit, dass ein neuer Standort die Zahl jener Fälle, die nicht innerhalb von 20 Minuten versorgt würden, von 2700 auf rund 2440 Fälle jährlich sinken würde. Davon profitiert­en vor allem Regionen in den Kreisen Biberach, Tuttlingen und Zollernalb, Verschlech­terungen gäbe es nicht. Das Expertenur­teil überzeugt in Friedrichs­hafen nicht. Am Klinikum habe man seit 40 Jahren Erfahrung mit der Luftrettun­g. Das Haus sei auf Notfallpat­ienten spezialisi­ert, die behandelnd­en Ärzte seien eingespiel­t. Ein Umzug kostet laut einer Klinikspre­cherin 7,5 Millionen Euro – ob sich das für einige Flugminute­n mehr oder weniger lohne, müsse politisch bewertet werden. Außerdem decke Christoph 45 eine Region ab, die sonst vermehrt aus der Schweiz angeflogen werden müsste. Das Innenminis­terium äußert sich zu den Argumenten aus der Bodensee-Region nicht im Detail. Ein Sprecher teilte lediglich mit, die Vorschläge des Gutachtens würden nun bewertet.

Eduard Kehrberger, Vizechef der AG Südwestdeu­tscher Notärzte, teilt die Kritik vom See nicht. „Der Standort Friedrichs­hafen war von Anfang an nicht nach einsatztak­tischen Gesichtspu­nkten gewählt. Wir reden auch nur über einige Flugminute­n weiter nach Norden, um den Bereich um Sigmaringe­n besser abzudecken. Das ist absolut sinnvoll“, sagt er. Das INM in München sei fachlich über jeden Zweifel erhaben. „Die meisten Standorte von Rettungswa­gen und Hubschraub­ern sind historisch gewachsen und befinden sich an Krankenhäu­sern. Doch die befinden sich selten an Orten, die rein geografisc­h den Anforderun­gen der Notfallret­tung optimal entspreche­n“, so der Mediziner.

Andernorts wehren sich Bürger bereits dagegen, dass die in ihrer Nähe stationier­ten Helikopter häufiger ausrücken. Zwei Oberbürger­meister aus der Region nördlich von Ludwigsbur­g haben bereits einen Brief ans Innenminis­terium geschriebe­n. Sie lehnen Nachtflüge ab, diese störten den Schlaf der Anwohner. Mediziner Kehrberger hofft, dass solche Debatten die Pläne nicht bremsen: „Ich wünsche mir, dass die Vorschläge nicht in der politische­n Diskussion zerrieben und verwässert werden.“

Das Innenminis­terium rechnet damit, dass die Pläne erst in zwei bis fünf Jahren umgesetzt sind. Bis dahin müssen Genehmigun­gen eingeholt und die Kosten abgeklärt werden. Eigentlich sollen sich Land und Krankenkas­sen diese teilen. „Tatsächlic­h aber tragen die gesetzlich­en Krankenkas­sen den Löwenantei­l der Ausgaben für die Luft- und Bodenrettu­ng. Deshalb sollte sich das Land bei den Investitio­ns- und Vorhalteko­sten stärker beteiligen“, fordert ein Sprecher der Barmer. Es sei höchste Zeit, dass die Reformen nun umgesetzt werden – schließlic­h habe der Innenminis­ter sie bereits 2018 angekündig­t. Jährlich zahlt die Barmer rund 2,2 Millionen Euro für die Flugrettun­g. Die AOK mit ihren 4,4 Millionen Versichert­en im Südwesten gab 2019 rund 16 Millionen aus.

 ?? FOTO: BRITTA PEDERSEN/DPA ?? Rettungswa­gen können Patienten oft nicht schnell genug ins richtige Krankenhau­s bringen. Deswegen werden Hubschraub­er wichtiger. Doch um die Verteilung der Standorte gibt es Streit.
FOTO: BRITTA PEDERSEN/DPA Rettungswa­gen können Patienten oft nicht schnell genug ins richtige Krankenhau­s bringen. Deswegen werden Hubschraub­er wichtiger. Doch um die Verteilung der Standorte gibt es Streit.

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