Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Blutige Machenschaften
Mark S. muss sich in einem der größten deutschen Dopingprozesse vor dem Münchner Landgericht verantworten – Mehr als 20 Sportlern soll er beim Eigenblutdoping geholfen haben
MÜNCHEN - Um 10.04 Uhr – die Sportler bei der Tour de France sitzen da wahrscheinlich gerade vor dem zweiten Frühstück – betritt Mark S. den Sitzungssaal A101 im Münchner Landgericht. Für die Radfahrer in Frankreich wird es heute ab der Mittagszeit von Grenoble nach Méribel gehen. 170 Kilometer. Zwei Berggipfel der höchsten Kategorie. Königsetappe, so nennen das die Rad-Aficionados.
Auch Mark S. würde normalerweise wohl verfolgen, wie sich die Pedalhelden in den Alpen schlagen – schließlich ist er dem Radsport durchaus zugetan. Ja mehr noch: In den vergangenen Jahren soll der Erfurter selbst bei der Tour de France mitgemischt haben. Und beim Giro d’Italia. Und bei weiteren großen Rad-Rundfahrten. Und bei der Nordischen Ski-WM. Und bei mehreren Olympischen Winterspielen.
Allerdings ist Mark S. bei all diesen Großveranstaltungen nicht etwa mitgeradelt und mitgefahren. Sondern er und seine Helfer haben – wenn die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft München stimmen – dort startenden Sportlern im Vorfeld Blut abgezapft, es aufbereitet und kurz vor dem Wettkampf wieder injiziert. Eigenblutdoping lautet der Fachbegriff dafür, und das ist nach dem Antidopinggesetz strafbar. Und so sitzt Mark S. an diesem Mittwoch nicht etwa vor dem Fernseher und verfolgt die Tour de France, sondern er muss sich vor dem Landgericht München verantworten – wegen Verstößen gegen Arzneimittel- und Dopinggesetze in fast 150 Fällen.
Der Prozess ist das größte in Deutschland geführte Dopingverfahren seit der juristischen Aufarbeitung des DDR-Staatsdopings vor gut 20 Jahren. Neben dem Erfurter Mediziner sind vier Helfer angeklagt – ein Bauunternehmer, eine Krankenschwester, ein Notfallsanitäter und der Vater des Hauptangeklagten, ein Rechtsanwalt. Als Drahtzieher gilt aber Mark S., der laut Staatsanwaltschaft spätestens seit Ende 2011 systematisches Blutdoping betrieben haben soll – „in einer unbekannten Vielzahl von Fällen weltweit, vor allem in Europa, insbesondere Deutschland und Österreich“. Zu den Kunden gehörten demnach vor allem Radfahrer und Wintersportler.
Die Ermittlungen rund um das Erfurter Dopingnetzwerk tragen den Namen „Operation Aderlass“. Sie führten Anfang 2019 zu einer spektakulären Razzia bei der Nordischen Ski-WM in Seefeld, wo fünf Athleten und zwei von S.s Komplizen festgenommen wurden – kurz vor dem Start des 15-Kilometer-Rennens der Skilangläufer. Besonders eindrücklich war damals das Bild des Österreichers Max Hauke, den die Ermittler in flagranti mit einer Nadel in der Armbeuge ertappten. Ein Video der Szene kursierte in den sozialen Netzwerken.
Zeitgleich zur Razzia in Österreich schlugen die Ermittler auch in Erfurt zu, wo in einer Garage ein Dopinglabor mit Blutkonserven ausgehoben und Mark S. sowie ein weiterer Helfer festgenommen wurden. Der Mediziner sitzt seither in Untersuchungshaft, nun schon mehr als eineinhalb Jahre – trotz aller Bemühungen und mehrerer Anträge seiner Anwälte. Und so wird S. an diesem Vormittag auch in Handschellen in den Saal geführt, wo er zwischen seinen Verteidigern auf der Anklagebank Platz nimmt. Der 42-Jährige, der deutlich jünger wirkt, ist durchtrainiert, trägt ein enges Kurzarmhemd, kurz geschorene Haare und macht keineswegs den Eindruck eines gebrochenen Mannes. Vielmehr plaudert er locker mit seinen Verteidigern, schaut neugierig im Saal umher, lächelt immer wieder und sucht den Blickkontakt zu einem der Mitangeklagten. Anders als dieser verdeckt S. auch sein Gesicht nicht vor den Fotografen und Kamerateams, die ihn vor Beginn der Verhandlung umlagern. Das Interesse an dem Prozess ist groß: 179 Journalisten haben sich akkreditieren lassen. Und weil wegen der Corona-Auflagen bloß sechs Zuschauerplätze für Reporter reserviert sind, schlagen einige von ihnen schon am Vorabend ihre Zelte vor dem Gerichtsgebäude auf und verbringen dort die Nacht mit Warten.
„Es ist ein enorm wichtiger Prozess für den Antidopingkampf – nicht nur in Deutschland, sondern weit über unsere Grenzen hinaus“, hat Alfons Hörmann, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbunds, der Nachrichtenagentur dpa gesagt. Und auch im Lager der Tour de France dürften viele – der Königsetappe zum Trotz – den Prozessauftakt in München mit großem Interesse
verfolgen. Schließlich erhoffen sich Experten von dem Verfahren neue Erkenntnisse, wie der Erfurter Dopingring in der Praxis gearbeitet hat und wieso seine Machenschaften so lange unentdeckt blieben.
Ob darüber hinaus auch neue Namen von Sportlern auftauchen? Das wird nicht zuletzt von den Aussagen S.s abhängen. Er hat sich dem MDR zufolge zunächst gegenüber den Ermittlern geäußert, zuletzt aber geschwiegen. Mehr als 20 Sportler sollen der Arzt und seine Helfer beim Blutdoping angeleitet und unterstützt haben – darunter den österreichischen Langläufer Johannes Dürr, dessen Aussagen in der ARD-Dokumentation „Gier nach Gold“die Ermittlungen überhaupt erst ins Rollen brachten. Echte Spitzenathleten sollen nach derzeitigem Stand nicht zu den Kunden gehört haben. Zu den bekannteren Namen zählen die früheren Radprofis Danilo Hondo und Alessandro Petacchi. Während der Deutsche das Blutdoping inzwischen eingeräumt hat, bestreitet der Italiener die Zusammenarbeit mit S.
Bevor es im Gerichtssaal aber um die Namen von Sportlern geht, wird der Prozess kurz nach dem Start schon wieder unterbrochen. Grund hierfür ist ein Antrag des Verteidigers von Dirk Q., einem der mutmaßlichen Helfer, der ebenfalls seit Februar 2019 in Untersuchungshaft sitzt. Der Anwalt des Bauunternehmers fordert, dass weite Teile der Anklage nicht öffentlich verlesen werden, da sie strafrechtlich irrelevant seien und „ausschließlich der medienwirksamen Vorverurteilung“seines Mandanten dienten. Das Gericht lehnt diesen Antrag nach einer kurzen Beratungspause jedoch ab, und so trägt Oberstaatsanwalt Kai Gräber wenig später die Anklageschrift vor – fast zwei Stunden lang.
Auf den 145 Seiten wird minutiös aufgelistet, wie S. und seine Komplizen durch die Welt reisten, um ihre Kunden beim Eigenblutdoping zu betreuen – im Gegenzug für Bargeld. Zwischen 5000 und 15 000 Euro, in Ausnahmefällen sogar 30 000 Euro sollen die Athleten jährlich dafür gezahlt haben. Insgesamt habe der Erfurter Dopingring rund 250 000 Euro umgesetzt. „Die Blutmanipulationen
Fritz Sörgel vom Institut für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung in Nürnberg erfolgten anhand von ausgefeilten Behandlungsplänen“, sagt Oberstaatsanwalt Gräber. In der Folge seien Dopingproben nach Wettkämpfen und im Training bei den Athleten „über einen langen Zeitraum“ohne Nachweis geblieben. Zur Übergabe der Blutbeutel und für die Behandlungen trafen S. und seine Helfer ihre Kunden laut Anklageschrift konspirativ an Flughäfen, in Hotels, auf Parkplätzen und an Autobahnraststätten in verschiedenen Ländern. Die Blutbeutel waren dabei mit Tarnnamen versehen – etwa „Einstein“, „Franzose“oder „TripleX“.
Die Übergabe der Blutbeutel sei nicht immer möglich gewesen, so die Anklage, etwa bei den Winterspielen in Pyeongchang. Darum sollen Mark S. und die angeklagte Krankenschwester Diana S. mehreren Wintersportlern je einen Liter Extraladung Blut injiziert haben, das diese dann in ihren Adern nach Südkorea geflogen haben sollen. In der Anklage ist von „Eigenblut-Bodypackern“die Rede. Als Thrombosevorkehrung sollen die Athleten Blutverdünnungsmittel mit auf den Flug bekommen haben.
In einem anderen Fall drängte Mark S. laut Anklage eine Mountainbikerin zur Einnahme eines gefährlichen Präparats. Der Frau wurde demnach schlecht, ihr Urin färbte sich rot. Erst nach einer Weile ging es der Österreicherin besser, hieß es.
Prinzipiell gehe es beim Eigenblutdoping darum, „möglichst viel Sauerstoff ins Gewebe zu bringen, um die Leistungsfähigkeit der Muskeln zu erhöhen“, sagt der Pharmakologe Fritz Sörgel vom Institut für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung in Nürnberg. Dem Sportler wird dabei circa ein Liter Blut abgenommen, ehe man daraus mittels einer Zentrifuge die roten Blutkörperchen abtrennt. Die so gewonnene Blutkonserve wird tiefgekühlt und dem Sportler kurz vor dem Wettkampf wieder injiziert. Dank der erhöhten Zahl von roten Blutkörperchen sind die Muskeln leistungsfähiger, wobei vor allem die Ausdauer verbessert wird. Experten sprechen von einer Steigerung von fünf bis 15 Prozent. „Blutdoping ist relativ einfach, kann aber nur sehr schwer nachgewiesen werden“, sagt Fritz Sörgel. Jedoch betont der Experte auch: „Ohne Hilfe können die Sportler das in der Regel nicht machen.“
Und genau hier kamen mutmaßlich Mark S. und seine Kollegen ins Spiel. Der Mediziner war in seiner Jugend selbst aktiver Skisportler; nach seinem Abschluss fungierte er ab 2006 als Mannschaftsarzt bei den Radsport-Teams Gerolsteiner und Milram. Schon 2009 kamen Dopingvorwürfe
gegen ihn auf – unter anderem beschuldigte ihn der ehemalige Gerolsteiner-Star Bernhard Kohl. S. jedoch wies die Vorwürfe stets zurück; ein 2013 eröffnetes Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Freiburg blieb ohne Ergebnisse. Zuletzt betrieb der Mediziner zusammen mit seiner Mutter eine Praxis in Erfurt. Im Falle einer Verurteilung könnte S. nun seine Approbation verlieren. Zudem droht ihm nach dem Antidopinggesetz eine Gefängnisstrafe von bis zu zehn Jahren.
Einen Fingerzeig, in welchem Rahmen sich das Strafmaß bewegen könnte, gibt die Vorsitzende Richterin Marion Tischler nach der Anklageverlesung, als sie von einem Verständigungsgespräch aller Prozessbeteiligten Anfang Juli berichtet. In diesem habe die Kammer dem Hauptangeklagten Mark S. im Falle eines umfänglichen Geständnisses eine Haftstrafe zwischen vier und sechs Jahren in Aussicht gestellt. Sein Komplize Dirk Q., bei dem das Gericht von einer Mittäterschaft ausgehe, hätte demnach mit etwa drei Jahren Haft rechnen können, die weiteren Helfer mit Bewährungsstrafen. Ein sogenannter Deal, also eine Einigung über den Strafrahmen im Vorfeld, sei nach dem Gespräch aber nicht zustande gekommen, berichtet die Richterin.
Am Nachmittag verliest der Verteidiger von Dirk Q. dann einen weiteren Antrag, wonach das Verfahren „wegen schwerwiegender Verstöße“einzustellen sei. Unter anderem kritisiert er lückenhafte Akten sowie die „massive Vorverurteilung“auch in den Medien, die ein faires Verfahren unmöglich machten. Diese Vorwürfe weist Oberstaatsanwalt Gräber im Anschluss vehement zurück; eine Entscheidung über den Antrag werde das Gericht „zu gegebener Zeit“treffen, kündigt die Richterin an. Derweil quittiert Mark S. den Vortrag des Anwalts an mehreren Stellen mit heftigem Nicken und einmal sogar mit einem gereckten Daumen. Seine Verteidiger haben zuvor erklärt, dass sich der Erfurter Mediziner an diesem ersten Tag nicht äußern werde – dies im weiteren Verlauf der Verhandlung aber noch zu tun gedenke.
Wenig später endet der Auftakt, am Freitag soll der Prozess fortgesetzt werden. Insgesamt sind 26 Verhandlungstage angesetzt; ein Urteil könnte demnach kurz vor Weihnachten fallen. Bis dahin sollen im Gericht rund 30 Zeugen gehört werden, darunter auch mehrere Ex-Sportler.
„Blutdoping ist relativ einfach, kann aber nur sehr schwer nachgewiesen werden.“