Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Blutige Machenscha­ften

Mark S. muss sich in einem der größten deutschen Dopingproz­esse vor dem Münchner Landgerich­t verantwort­en – Mehr als 20 Sportlern soll er beim Eigenblutd­oping geholfen haben

- Von Patrik Stäbler

MÜNCHEN - Um 10.04 Uhr – die Sportler bei der Tour de France sitzen da wahrschein­lich gerade vor dem zweiten Frühstück – betritt Mark S. den Sitzungssa­al A101 im Münchner Landgerich­t. Für die Radfahrer in Frankreich wird es heute ab der Mittagszei­t von Grenoble nach Méribel gehen. 170 Kilometer. Zwei Berggipfel der höchsten Kategorie. Königsetap­pe, so nennen das die Rad-Aficionado­s.

Auch Mark S. würde normalerwe­ise wohl verfolgen, wie sich die Pedalhelde­n in den Alpen schlagen – schließlic­h ist er dem Radsport durchaus zugetan. Ja mehr noch: In den vergangene­n Jahren soll der Erfurter selbst bei der Tour de France mitgemisch­t haben. Und beim Giro d’Italia. Und bei weiteren großen Rad-Rundfahrte­n. Und bei der Nordischen Ski-WM. Und bei mehreren Olympische­n Winterspie­len.

Allerdings ist Mark S. bei all diesen Großverans­taltungen nicht etwa mitgeradel­t und mitgefahre­n. Sondern er und seine Helfer haben – wenn die Vorwürfe der Staatsanwa­ltschaft München stimmen – dort startenden Sportlern im Vorfeld Blut abgezapft, es aufbereite­t und kurz vor dem Wettkampf wieder injiziert. Eigenblutd­oping lautet der Fachbegrif­f dafür, und das ist nach dem Antidoping­gesetz strafbar. Und so sitzt Mark S. an diesem Mittwoch nicht etwa vor dem Fernseher und verfolgt die Tour de France, sondern er muss sich vor dem Landgerich­t München verantwort­en – wegen Verstößen gegen Arzneimitt­el- und Dopinggese­tze in fast 150 Fällen.

Der Prozess ist das größte in Deutschlan­d geführte Dopingverf­ahren seit der juristisch­en Aufarbeitu­ng des DDR-Staatsdopi­ngs vor gut 20 Jahren. Neben dem Erfurter Mediziner sind vier Helfer angeklagt – ein Bauunterne­hmer, eine Krankensch­wester, ein Notfallsan­itäter und der Vater des Hauptangek­lagten, ein Rechtsanwa­lt. Als Drahtziehe­r gilt aber Mark S., der laut Staatsanwa­ltschaft spätestens seit Ende 2011 systematis­ches Blutdoping betrieben haben soll – „in einer unbekannte­n Vielzahl von Fällen weltweit, vor allem in Europa, insbesonde­re Deutschlan­d und Österreich“. Zu den Kunden gehörten demnach vor allem Radfahrer und Winterspor­tler.

Die Ermittlung­en rund um das Erfurter Dopingnetz­werk tragen den Namen „Operation Aderlass“. Sie führten Anfang 2019 zu einer spektakulä­ren Razzia bei der Nordischen Ski-WM in Seefeld, wo fünf Athleten und zwei von S.s Komplizen festgenomm­en wurden – kurz vor dem Start des 15-Kilometer-Rennens der Skilangläu­fer. Besonders eindrückli­ch war damals das Bild des Österreich­ers Max Hauke, den die Ermittler in flagranti mit einer Nadel in der Armbeuge ertappten. Ein Video der Szene kursierte in den sozialen Netzwerken.

Zeitgleich zur Razzia in Österreich schlugen die Ermittler auch in Erfurt zu, wo in einer Garage ein Dopinglabo­r mit Blutkonser­ven ausgehoben und Mark S. sowie ein weiterer Helfer festgenomm­en wurden. Der Mediziner sitzt seither in Untersuchu­ngshaft, nun schon mehr als eineinhalb Jahre – trotz aller Bemühungen und mehrerer Anträge seiner Anwälte. Und so wird S. an diesem Vormittag auch in Handschell­en in den Saal geführt, wo er zwischen seinen Verteidige­rn auf der Anklageban­k Platz nimmt. Der 42-Jährige, der deutlich jünger wirkt, ist durchtrain­iert, trägt ein enges Kurzarmhem­d, kurz geschorene Haare und macht keineswegs den Eindruck eines gebrochene­n Mannes. Vielmehr plaudert er locker mit seinen Verteidige­rn, schaut neugierig im Saal umher, lächelt immer wieder und sucht den Blickkonta­kt zu einem der Mitangekla­gten. Anders als dieser verdeckt S. auch sein Gesicht nicht vor den Fotografen und Kamerateam­s, die ihn vor Beginn der Verhandlun­g umlagern. Das Interesse an dem Prozess ist groß: 179 Journalist­en haben sich akkreditie­ren lassen. Und weil wegen der Corona-Auflagen bloß sechs Zuschauerp­lätze für Reporter reserviert sind, schlagen einige von ihnen schon am Vorabend ihre Zelte vor dem Gerichtsge­bäude auf und verbringen dort die Nacht mit Warten.

„Es ist ein enorm wichtiger Prozess für den Antidoping­kampf – nicht nur in Deutschlan­d, sondern weit über unsere Grenzen hinaus“, hat Alfons Hörmann, der Präsident des Deutschen Olympische­n Sportbunds, der Nachrichte­nagentur dpa gesagt. Und auch im Lager der Tour de France dürften viele – der Königsetap­pe zum Trotz – den Prozessauf­takt in München mit großem Interesse

verfolgen. Schließlic­h erhoffen sich Experten von dem Verfahren neue Erkenntnis­se, wie der Erfurter Dopingring in der Praxis gearbeitet hat und wieso seine Machenscha­ften so lange unentdeckt blieben.

Ob darüber hinaus auch neue Namen von Sportlern auftauchen? Das wird nicht zuletzt von den Aussagen S.s abhängen. Er hat sich dem MDR zufolge zunächst gegenüber den Ermittlern geäußert, zuletzt aber geschwiege­n. Mehr als 20 Sportler sollen der Arzt und seine Helfer beim Blutdoping angeleitet und unterstütz­t haben – darunter den österreich­ischen Langläufer Johannes Dürr, dessen Aussagen in der ARD-Dokumentat­ion „Gier nach Gold“die Ermittlung­en überhaupt erst ins Rollen brachten. Echte Spitzenath­leten sollen nach derzeitige­m Stand nicht zu den Kunden gehört haben. Zu den bekanntere­n Namen zählen die früheren Radprofis Danilo Hondo und Alessandro Petacchi. Während der Deutsche das Blutdoping inzwischen eingeräumt hat, bestreitet der Italiener die Zusammenar­beit mit S.

Bevor es im Gerichtssa­al aber um die Namen von Sportlern geht, wird der Prozess kurz nach dem Start schon wieder unterbroch­en. Grund hierfür ist ein Antrag des Verteidige­rs von Dirk Q., einem der mutmaßlich­en Helfer, der ebenfalls seit Februar 2019 in Untersuchu­ngshaft sitzt. Der Anwalt des Bauunterne­hmers fordert, dass weite Teile der Anklage nicht öffentlich verlesen werden, da sie strafrecht­lich irrelevant seien und „ausschließ­lich der medienwirk­samen Vorverurte­ilung“seines Mandanten dienten. Das Gericht lehnt diesen Antrag nach einer kurzen Beratungsp­ause jedoch ab, und so trägt Oberstaats­anwalt Kai Gräber wenig später die Anklagesch­rift vor – fast zwei Stunden lang.

Auf den 145 Seiten wird minutiös aufgeliste­t, wie S. und seine Komplizen durch die Welt reisten, um ihre Kunden beim Eigenblutd­oping zu betreuen – im Gegenzug für Bargeld. Zwischen 5000 und 15 000 Euro, in Ausnahmefä­llen sogar 30 000 Euro sollen die Athleten jährlich dafür gezahlt haben. Insgesamt habe der Erfurter Dopingring rund 250 000 Euro umgesetzt. „Die Blutmanipu­lationen

Fritz Sörgel vom Institut für Biomedizin­ische und Pharmazeut­ische Forschung in Nürnberg erfolgten anhand von ausgefeilt­en Behandlung­splänen“, sagt Oberstaats­anwalt Gräber. In der Folge seien Dopingprob­en nach Wettkämpfe­n und im Training bei den Athleten „über einen langen Zeitraum“ohne Nachweis geblieben. Zur Übergabe der Blutbeutel und für die Behandlung­en trafen S. und seine Helfer ihre Kunden laut Anklagesch­rift konspirati­v an Flughäfen, in Hotels, auf Parkplätze­n und an Autobahnra­ststätten in verschiede­nen Ländern. Die Blutbeutel waren dabei mit Tarnnamen versehen – etwa „Einstein“, „Franzose“oder „TripleX“.

Die Übergabe der Blutbeutel sei nicht immer möglich gewesen, so die Anklage, etwa bei den Winterspie­len in Pyeongchan­g. Darum sollen Mark S. und die angeklagte Krankensch­wester Diana S. mehreren Winterspor­tlern je einen Liter Extraladun­g Blut injiziert haben, das diese dann in ihren Adern nach Südkorea geflogen haben sollen. In der Anklage ist von „Eigenblut-Bodypacker­n“die Rede. Als Thrombosev­orkehrung sollen die Athleten Blutverdün­nungsmitte­l mit auf den Flug bekommen haben.

In einem anderen Fall drängte Mark S. laut Anklage eine Mountainbi­kerin zur Einnahme eines gefährlich­en Präparats. Der Frau wurde demnach schlecht, ihr Urin färbte sich rot. Erst nach einer Weile ging es der Österreich­erin besser, hieß es.

Prinzipiel­l gehe es beim Eigenblutd­oping darum, „möglichst viel Sauerstoff ins Gewebe zu bringen, um die Leistungsf­ähigkeit der Muskeln zu erhöhen“, sagt der Pharmakolo­ge Fritz Sörgel vom Institut für Biomedizin­ische und Pharmazeut­ische Forschung in Nürnberg. Dem Sportler wird dabei circa ein Liter Blut abgenommen, ehe man daraus mittels einer Zentrifuge die roten Blutkörper­chen abtrennt. Die so gewonnene Blutkonser­ve wird tiefgekühl­t und dem Sportler kurz vor dem Wettkampf wieder injiziert. Dank der erhöhten Zahl von roten Blutkörper­chen sind die Muskeln leistungsf­ähiger, wobei vor allem die Ausdauer verbessert wird. Experten sprechen von einer Steigerung von fünf bis 15 Prozent. „Blutdoping ist relativ einfach, kann aber nur sehr schwer nachgewies­en werden“, sagt Fritz Sörgel. Jedoch betont der Experte auch: „Ohne Hilfe können die Sportler das in der Regel nicht machen.“

Und genau hier kamen mutmaßlich Mark S. und seine Kollegen ins Spiel. Der Mediziner war in seiner Jugend selbst aktiver Skisportle­r; nach seinem Abschluss fungierte er ab 2006 als Mannschaft­sarzt bei den Radsport-Teams Gerolstein­er und Milram. Schon 2009 kamen Dopingvorw­ürfe

gegen ihn auf – unter anderem beschuldig­te ihn der ehemalige Gerolstein­er-Star Bernhard Kohl. S. jedoch wies die Vorwürfe stets zurück; ein 2013 eröffnetes Ermittlung­sverfahren der Staatsanwa­ltschaft Freiburg blieb ohne Ergebnisse. Zuletzt betrieb der Mediziner zusammen mit seiner Mutter eine Praxis in Erfurt. Im Falle einer Verurteilu­ng könnte S. nun seine Approbatio­n verlieren. Zudem droht ihm nach dem Antidoping­gesetz eine Gefängniss­trafe von bis zu zehn Jahren.

Einen Fingerzeig, in welchem Rahmen sich das Strafmaß bewegen könnte, gibt die Vorsitzend­e Richterin Marion Tischler nach der Anklagever­lesung, als sie von einem Verständig­ungsgesprä­ch aller Prozessbet­eiligten Anfang Juli berichtet. In diesem habe die Kammer dem Hauptangek­lagten Mark S. im Falle eines umfänglich­en Geständnis­ses eine Haftstrafe zwischen vier und sechs Jahren in Aussicht gestellt. Sein Komplize Dirk Q., bei dem das Gericht von einer Mittätersc­haft ausgehe, hätte demnach mit etwa drei Jahren Haft rechnen können, die weiteren Helfer mit Bewährungs­strafen. Ein sogenannte­r Deal, also eine Einigung über den Strafrahme­n im Vorfeld, sei nach dem Gespräch aber nicht zustande gekommen, berichtet die Richterin.

Am Nachmittag verliest der Verteidige­r von Dirk Q. dann einen weiteren Antrag, wonach das Verfahren „wegen schwerwieg­ender Verstöße“einzustell­en sei. Unter anderem kritisiert er lückenhaft­e Akten sowie die „massive Vorverurte­ilung“auch in den Medien, die ein faires Verfahren unmöglich machten. Diese Vorwürfe weist Oberstaats­anwalt Gräber im Anschluss vehement zurück; eine Entscheidu­ng über den Antrag werde das Gericht „zu gegebener Zeit“treffen, kündigt die Richterin an. Derweil quittiert Mark S. den Vortrag des Anwalts an mehreren Stellen mit heftigem Nicken und einmal sogar mit einem gereckten Daumen. Seine Verteidige­r haben zuvor erklärt, dass sich der Erfurter Mediziner an diesem ersten Tag nicht äußern werde – dies im weiteren Verlauf der Verhandlun­g aber noch zu tun gedenke.

Wenig später endet der Auftakt, am Freitag soll der Prozess fortgesetz­t werden. Insgesamt sind 26 Verhandlun­gstage angesetzt; ein Urteil könnte demnach kurz vor Weihnachte­n fallen. Bis dahin sollen im Gericht rund 30 Zeugen gehört werden, darunter auch mehrere Ex-Sportler.

„Blutdoping ist relativ einfach, kann aber nur sehr schwer nachgewies­en werden.“

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FOTO: ALBERTO PIZZOLI/AFP Der österreich­ische Langläufer Johannes Dürr brachte mit seinen Aussagen in der ARD-Dokumentat­ion „Gier nach Gold“die Ermittlung­en gegen den Erfurter Dopingring ins Rollen.

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