Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Brüsseler Klimarevolution
Ursula von der Leyen verschärft EU-Ziele deutlich – Bei der Migrationsfrage bleibt sie jedoch vage
BRÜSSEL - Für die einen klingt es wie eine Verheißung, für andere wie ein Programm zur Vernichtung der europäischen Wirtschaftsstruktur: Bis zum kommenden Sommer will die EU-Kommission die komplette Klimagesetzgebung der Union auf den Prüfstand stellen und so anpassen, dass deutlich ehrgeizigere Klimaziele als ursprünglich geplant erreicht werden können. Um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 sollen die CO
in der EU innerhalb einer Dekade sinken, kündigte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch in ihrer ersten „Rede zur Lage der Union“im Europaparlament in Brüssel an.
Überraschend kam dieser Vorstoß nicht. Klimaschützer warnen schon lange, dass mit dem erst letztes Jahr beschlossenen Ziel von 40 Prozent Einsparung die Erderwärmung nicht auf 1,5 Grad begrenzt werden könne. Sie erhöhen ihren Druck gerade jetzt, wo mit dem neuen Siebenjahreshaushalt und dem Wiederaufbaupaket nach der Corona-Krise ein einmaliger Geldsegen für die europäische Wirtschaft angekündigt ist. Dieses Geld dürfe nicht dafür ausgegeben werden, alte Strukturen zu erhalten, sondern solle ausschließlich in klimafreundliche Neuerungen investiert werden. 37 Prozent der 750 Milliarden Euro, die die EU zur wirtschaftlichen Wiederbelebung investieren will, sollen für die Umsetzung des Klimapaktes ausgegeben werden. Als „Leuchtturmprojekte“nannte von der Leyen den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft, ein Programm zur Gebäuderenovierung und den Bau von einer Million Ladesäulen.
Staatsminister Michael Roth antwortete für die amtierende deutsche Ratspräsidentschaft auf von der Leyens Vorschläge. „Sie werden nicht erwartet haben, dass der Rat jeden Ihrer Vorschläge teilt. Aber es geht um die Weiterentwicklung, den Neuaufbau, einen sozialökonomischen Aufbau. Deshalb haben Sie unsere Unterstützung bei Digitalisierung und Klimaschutz.“Angela Niebler, CSUEuropaabgeordnete aus Oberbayern, erinnerte an Personalabbau, verlassene Flughäfen und Betriebsschließungen in Folge der Corona-Krise und plädierte dafür, die Unternehmen nicht noch mehr zu belasten. „Ich teile ambitionierte Klimaschutzziele,
aber es kommt auf die Umsetzung an. Setzen Sie auf marktwirtschaftliche Instrumente, nehmen Sie unseren Mittelstand mit!“
Die coronabedingte Rezession und die Schlacht um die Klimaziele haben das Flüchtlingsthema nicht nur aus den Schlagzeilen verdrängt, sondern auch aus dem Prioritätenkatalog der EU-Kommission. Nur einen winzigen Teil ihrer achtzigminütigen „Rede zur Lage der Union“widmete Ursula von der Leyen diesem Problem. Zwar soll das mehrfach verschobene Reformpaket zur Asyl- und Migrationsgesetzgebung nun nicht zum Monatsende, sondern schon nächste Woche kommen. Viel Verbindliches sollte man sich von dem angekündigten „Migrationspakt“aber nicht erwarten.
Der für Migration zuständige EUKommissar Margaritis Schinas beschrieb ihn vergangenen Freitag als
„Haus mit drei Stockwerken“. Grundlage sei „eine sehr starke außenpolitische Dimension“. Mit Herkunftsund Transitländern sollten verstärkt Abkommen geschlossen werden, um Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben in ihren Ursprungsländern zu halten. Das zweite Element sei eine personell deutlich verstärkte und besser ausgerüstete Grenz- und Küstenwache. Der dritte, politisch besonders umstrittene Punkt besteht aus einem, wie Schinas sagte, „System permanenter, effektiver Solidarität.“
Von der Leyen weiß, dass ihre Möglichkeiten, diese Solidarität einzufordern, äußerst begrenzt sind. Gegen den Widerstand einer größeren Gruppe von Mitgliedsstaaten kann sie weder eine gerechtere Verteilung der in Griechenland, Italien, Malta oder Spanien gestrandeten Menschen, noch einheitliche Asylstandards und Einwanderungsquoten durchsetzen. Schon zwei Vorgänger – Manuel Barroso und Jean-Claude Juncker – haben sich an dem Thema die Zähne ausgebissen. Seit 2004, als zehn neue Mitgliedsstaaten mit wenig Migrationserfahrung und großen Vorbehalten gegen Zuwanderer in die EU kamen, sind die Reformchancen weiter geschrumpft.
In ihrer Rede betonte von der Leyen, dass die Rettung von Bootsflüchtlingen ebenso wenig verhandelbar sei wie eine menschenwürdige Unterbringung. Die EU stehe zu ihren Werten. Konkrete Vorschläge blieb sie zwar schuldig, skizzierte aber immerhin einen Weg aus der verfahrenen Lage auf Lesbos. Man werde in Zusammenarbeit mit den griechischen Behörden dort ein Pilotprojekt starten und als Ersatz für das abgebrannte Lager Moria ein neues Camp errichten. Unter Regie der EU sollen die Asyl- und Abschiebeverfahren deutlich beschleunigt und die Lebensbedingungen für die Flüchtlinge verbessert werden.
Zu dem deutschen Angebot, 408 Familien von den griechischen Inseln aufzunehmen, äußerte sich die Kommissionspräsidentin nur indirekt. „Länder, die ihre rechtlichen und moralischen Pflichten erfüllen oder mehr in der Pflicht stehen als andere, müssen sich auf die Solidarität der gesamten Europäischen Union verlassen können.“