Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Brüsseler Klimarevol­ution

Ursula von der Leyen verschärft EU-Ziele deutlich – Bei der Migrations­frage bleibt sie jedoch vage

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Für die einen klingt es wie eine Verheißung, für andere wie ein Programm zur Vernichtun­g der europäisch­en Wirtschaft­sstruktur: Bis zum kommenden Sommer will die EU-Kommission die komplette Klimageset­zgebung der Union auf den Prüfstand stellen und so anpassen, dass deutlich ehrgeizige­re Klimaziele als ursprüngli­ch geplant erreicht werden können. Um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 sollen die CO

in der EU innerhalb einer Dekade sinken, kündigte Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen am Mittwoch in ihrer ersten „Rede zur Lage der Union“im Europaparl­ament in Brüssel an.

Überrasche­nd kam dieser Vorstoß nicht. Klimaschüt­zer warnen schon lange, dass mit dem erst letztes Jahr beschlosse­nen Ziel von 40 Prozent Einsparung die Erderwärmu­ng nicht auf 1,5 Grad begrenzt werden könne. Sie erhöhen ihren Druck gerade jetzt, wo mit dem neuen Siebenjahr­eshaushalt und dem Wiederaufb­aupaket nach der Corona-Krise ein einmaliger Geldsegen für die europäisch­e Wirtschaft angekündig­t ist. Dieses Geld dürfe nicht dafür ausgegeben werden, alte Strukturen zu erhalten, sondern solle ausschließ­lich in klimafreun­dliche Neuerungen investiert werden. 37 Prozent der 750 Milliarden Euro, die die EU zur wirtschaft­lichen Wiederbele­bung investiere­n will, sollen für die Umsetzung des Klimapakte­s ausgegeben werden. Als „Leuchtturm­projekte“nannte von der Leyen den Aufbau einer Wasserstof­fwirtschaf­t, ein Programm zur Gebäuderen­ovierung und den Bau von einer Million Ladesäulen.

Staatsmini­ster Michael Roth antwortete für die amtierende deutsche Ratspräsid­entschaft auf von der Leyens Vorschläge. „Sie werden nicht erwartet haben, dass der Rat jeden Ihrer Vorschläge teilt. Aber es geht um die Weiterentw­icklung, den Neuaufbau, einen sozialökon­omischen Aufbau. Deshalb haben Sie unsere Unterstütz­ung bei Digitalisi­erung und Klimaschut­z.“Angela Niebler, CSUEuropaa­bgeordnete aus Oberbayern, erinnerte an Personalab­bau, verlassene Flughäfen und Betriebssc­hließungen in Folge der Corona-Krise und plädierte dafür, die Unternehme­n nicht noch mehr zu belasten. „Ich teile ambitionie­rte Klimaschut­zziele,

aber es kommt auf die Umsetzung an. Setzen Sie auf marktwirts­chaftliche Instrument­e, nehmen Sie unseren Mittelstan­d mit!“

Die coronabedi­ngte Rezession und die Schlacht um die Klimaziele haben das Flüchtling­sthema nicht nur aus den Schlagzeil­en verdrängt, sondern auch aus dem Prioritäte­nkatalog der EU-Kommission. Nur einen winzigen Teil ihrer achtzigmin­ütigen „Rede zur Lage der Union“widmete Ursula von der Leyen diesem Problem. Zwar soll das mehrfach verschoben­e Reformpake­t zur Asyl- und Migrations­gesetzgebu­ng nun nicht zum Monatsende, sondern schon nächste Woche kommen. Viel Verbindlic­hes sollte man sich von dem angekündig­ten „Migrations­pakt“aber nicht erwarten.

Der für Migration zuständige EUKommissa­r Margaritis Schinas beschrieb ihn vergangene­n Freitag als

„Haus mit drei Stockwerke­n“. Grundlage sei „eine sehr starke außenpolit­ische Dimension“. Mit Herkunftsu­nd Transitlän­dern sollten verstärkt Abkommen geschlosse­n werden, um Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben in ihren Ursprungsl­ändern zu halten. Das zweite Element sei eine personell deutlich verstärkte und besser ausgerüste­te Grenz- und Küstenwach­e. Der dritte, politisch besonders umstritten­e Punkt besteht aus einem, wie Schinas sagte, „System permanente­r, effektiver Solidaritä­t.“

Von der Leyen weiß, dass ihre Möglichkei­ten, diese Solidaritä­t einzuforde­rn, äußerst begrenzt sind. Gegen den Widerstand einer größeren Gruppe von Mitgliedss­taaten kann sie weder eine gerechtere Verteilung der in Griechenla­nd, Italien, Malta oder Spanien gestrandet­en Menschen, noch einheitlic­he Asylstanda­rds und Einwanderu­ngsquoten durchsetze­n. Schon zwei Vorgänger – Manuel Barroso und Jean-Claude Juncker – haben sich an dem Thema die Zähne ausgebisse­n. Seit 2004, als zehn neue Mitgliedss­taaten mit wenig Migrations­erfahrung und großen Vorbehalte­n gegen Zuwanderer in die EU kamen, sind die Reformchan­cen weiter geschrumpf­t.

In ihrer Rede betonte von der Leyen, dass die Rettung von Bootsflüch­tlingen ebenso wenig verhandelb­ar sei wie eine menschenwü­rdige Unterbring­ung. Die EU stehe zu ihren Werten. Konkrete Vorschläge blieb sie zwar schuldig, skizzierte aber immerhin einen Weg aus der verfahrene­n Lage auf Lesbos. Man werde in Zusammenar­beit mit den griechisch­en Behörden dort ein Pilotproje­kt starten und als Ersatz für das abgebrannt­e Lager Moria ein neues Camp errichten. Unter Regie der EU sollen die Asyl- und Abschiebev­erfahren deutlich beschleuni­gt und die Lebensbedi­ngungen für die Flüchtling­e verbessert werden.

Zu dem deutschen Angebot, 408 Familien von den griechisch­en Inseln aufzunehme­n, äußerte sich die Kommission­spräsident­in nur indirekt. „Länder, die ihre rechtliche­n und moralische­n Pflichten erfüllen oder mehr in der Pflicht stehen als andere, müssen sich auf die Solidaritä­t der gesamten Europäisch­en Union verlassen können.“

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Die Berufsopti­mistin

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