Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Seehofer verteidigt Aufnahme von Flüchtlingsfamilien
Innenminister steht im Bundestag in der Kritik – Asylverfahren sollen künftig an EU-Außengrenze abgewickelt werden
BERLIN - „Ich sehe gar nichts“, sagt Horst Seehofer zu Wolfgang Schäuble. Der hatte als Parlamentspräsident den Innenminister darauf hingewiesen, auf die rote Ampel zu achten, die lange Redezeiten anzeigt. Doch da Seehofer nicht rot sieht, fallen seine Antworten an diesem Mittwoch im Berliner Bundestag mitunter etwas länger aus als nötig und ziehen so die Ministerbefragung in die Länge.
Die Abgeordneten haben an diesem Tag viele Fragen an Seehofer. Ein paar wenige drehen sich um grenzüberschreitende Paare, aber dazu später mehr. Denn fast alle anderen Fragen befassen sich mit der Flüchtlingspolitik der Regierung und insbesondere mit der jüngsten Entscheidung, 408 Familien von den griechischen Inseln zu holen. Und er stellt in Aussicht, dass der Bund die Kommunen, die sich im Rahmen der „Seebrücke“für die Aufnahme stark gemacht haben, bei der Verteilung „besonders bedenken“könne.
Seehofer stellt sich an diesem Mittwoch hinter den Beschluss der Koalition, auf den Deutschland „stolz“sein solle. Vor allem wehrt er sich gegen Angriffe der AfD, er würde sich von Hilfsorganisationen und „Brandstiftern“treiben lassen.
„Ich lasse mich von niemanden erpressen“, sagt er. Und das habe er in seiner politischen Karriere auch oft genug unter Beweis gestellt. „Vor ihnen steht ein Bundesinnenminister, der mehr als jeder andere für die Steuerung und Begrenzung von Migration getan hat“, schiebt er hinterher.
Mit Kritik könne er umgehen, auch wenn sie aus den eigenen Reihen kommt. Dass mit Entwicklungshilfeminister Gerd Müller ausgerechnet ein Parteifreund die Aufnahme von mehr Flüchtlingen gefordert habe, tut er ab. Es gehöre zu seinem politischen Lebensweg, dass „einen auch Parteifreunde sehr liebevoll behandeln“. Doch das störe ihn nicht mehr besonders. „In meinem Alter ist nicht mehr das Fernsehstudio das Wichtigste, sondern der Arbeitsplatz“, sagt er. Er sei seinen Weg immer „geradlinig gegangen“, schiebt der 71-Jährige nach. Die Vergangenheitsform ist kein Zufall: Seehofer will sich nach der Bundestagswahl 2021 aus der Politik zurückziehen. Da will er aber auch nicht als verbitterter kaltherziger Blockierer dastehen.
Dabei tut er nach Meinung einiger nach wie vor viel zu viel für die Begrenzung der Migration. Vor allem Grüne und Linke kritisieren, dass
Deutschland durchaus mehr beziehungsweise alle Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager Moria aufnehmen könne. Die Kritik der Linken, dass die Flüchtlingspolitik der Koalition samt der Begrenzungsdeals mit der Türkei komplett gescheitert sei, weist Seehofer zurück: „Ich habe alles getan in meiner Amtszeit, dass der Vertrag mit der Türkei und der EU mit Leben erfüllt wird“, sagt er.
Bei denn Grünen geht der CSUMann zum Gegenangriff über: „Ich kann mir vorstellen, dass ihr Ministerpräsident das anders sieht“, antwortet er auf Kritik der Baden-Württembergerin Franziska Brantner. Auf den Vorwurf, dass es keine gemeinsame europäische Strategie gebe, kontert er: „Ich habe von Regierungen, wo Grüne beteiligt sind, 0,0 Unterstützung.“Denn eines kann man Seehofer nicht nehmen: Er ist der bisher einzige von 27 EU-Innenministern, der in Sachen Moria ein Aufnahmeangebot
auf den Tisch gelegt hat. Andere Länder winken ab. Österreichs Regierungschef Sebastian Kurz (ÖVP) warnt sogar, dass die Aufnahme ähnliche Anziehungseffekte auslösen könnte wie die Merkel-Selfies 2015.
Und auch Seehofer kritisiert das deutsche Vorgehen. Die Suche nach einer europäischen Lösung sei durch die Debatte der vergangenen Tagen „nicht einfacher geworden“. Die anderen Staaten seien es leid, die „Moralkeule“Deutschlands zu spüren. Gleichwohl setze er auf eine gemeinsame EU-Asylpolitik. So sollten künftig alle Asylverfahren künftig an der EU-Außengrenze abgewickelt werden, beispielsweise in einem neuen, von der EU betriebenen Lager auf Lesbos. Von dort aus könnten die Asylbewerber dann auf die EUStaaten verteilt werden. Am 30. September will die EU Vorschläge machen, darauf sei er gespannt.
Es könnte ein frustrierender Ausblick sein, wenn nicht die FDP noch nach einem ganz anderen Thema fragt: Die coronabedingte Trennung binationaler Paare an Grenzen. Die FDP-Männer Konstantin Kuhle und Benjamin Strasser drängen darauf, das Thema im Sinne der Paare anzugehen. „Das sind keine Einzelfälle“, sagt Strasser. Und der Minister gibt sich kulant: „Sie geben uns die Fälle. Wir tun alles, dass wir das national lösen. Aber der Rechtsstaat wird sich nicht auf der Nase rumtanzen lassen“, sagt Seehofer mit Blick auf Grenzgänger, die nicht mal den Namen der Freundin wussten. Wie lange das dauere, fragt Strasser. „Wenn ich Ihnen das zusage, spielt die Zeit keine Rolle“, antwortet der Minister.