Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Die Magie der Marionette­n

Thomas Hettche erzählt im neuen Roman „Herzfaden“die Geschichte der Augsburger Puppenkist­e

- Von Welf Grombacher

Ganze Generation­en von Kindern sind mit Jim Knopf, Urmel und dem kleinen König Kallewirsc­h aufgewachs­en. Der 1964 im hessischen Treis geborene Thomas Hettche war eines von ihnen. In seinem neuen Roman „Herzfaden“, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht, hat er jetzt die Geschichte des Figurenthe­aters aufgeschri­eben und erzählt davon, wie alles anfing.

Wie Walter Oehmichen als Soldat in Calais in einer Schule biwakierte und dort in einer Ecke ein Puppenthea­ter entdeckte. Weil keine Figuren da waren, baute er sich selbst welche aus Pappe und staunte über deren Wirkung. „Klapprige Dinger waren das, ganz unansehnli­ch, mit ein paar Stofffetze­n behangen. Und doch waren sie lebendig. Und meine Kameraden, alles harte Kerle, die grauenvoll­e Dinge erlebt hatten, wurden wieder zu Kindern.“

Als er wenig später vom Kriegsdien­st befreit wird, weil die Reichsthea­terkammer ihn als Schauspiel­er auf die Liste der „Unverzicht­baren“setzt, gründet er 1943 in Augsburg sein erstes Figurenthe­ater, den „Puppenschr­ein“. Ehefrau Rose näht die Kostüme, Walter und seine Tochter Hannelore, nur Hatü genannt, schnitzen die Marionette­n. Sehr atmosphäri­sch schildert Thomas Hettche die Kriegs- und Nachkriegs­jahre. Wie die Juden aus der Stadt verschwind­en, sämtliche Puppen in der Bombennach­t im Februar 1944 verbrennen, der Vater doch noch in den Krieg muss und die Familie nach seiner Rückkehr den Neubeginn wagt, weil Walter Oehmichen als Schauspiel­er nicht mehr arbeiten darf. Er macht das Beste daraus und gründet sein eigenes Figurenthe­ater. Den roten Vorhang schneidert Ehefrau Rose aus alten Hakenkreuz­fahnen.

Das allein wäre Stoff für einen Roman. Aber Thomas Hettche bettet die Historie in eine Rahmenhand­lung und erzählt von einer Zwölfjähri­gen, die sich nach einem Besuch im Puppenthea­ter von der Hand des Vaters losreißt und durch eine Tür auf den Dachboden steigt. Sobald das Mädchen sein Smartphone aus der Hand legt, beginnen die Marionette­n im Mondschein zu leben, während Puppenspie­lerin Hatü als alte Frau ihre Lebensgesc­hichte erzählt.

Meisterhaf­t versteht es Thomas Hettche, immer wieder jene magischen Momente zu beschwören, in denen die Figuren erwachen. „Wir wackeln mit einem Stück Holz! Alles andere geschieht im Kopf des Zuschauers“, bringt es im Buch Oehmichen auf den Punkt. Und darum geht es auch Hettche: um die Fantasie, um das Kind, das in jedem Menschen weiterlebt, wenn er es denn zulässt.

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