Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Ich brauche keinen Vater mehr“

Die Zahl der Jugendlich­en, die aus jedem gesellscha­ftlichen Rahmen fallen, nimmt zu – Im Ravensburg­er Jugendhilf­everein finden sie ihre Zukunft

- Von Wolfram Frommlet

WEINGARTEN - Als ihr Vater sie beim Rauchen erwischte, packte er sie an den Haaren, zog sie in die Toilette und drückte ihren Kopf in die Klo-Schüssel. „Ich wäre fast erstickt“, erzählt Tatjana Subic. Ihr richtiger Name lautet anders. Sie ist, minderjähr­ig noch, der häuslichen Gewalt und den Regeln einer christlich­en Sekte davongelau­fen, hat auf der Straße gelebt und fand über einen Streetwork­er einen Platz im betreuten Wohnen des Ravensburg­er Jugendhilf­evereins in Weingarten.

Inzwischen zwar volljährig, hat sie noch immer Angst, von Verwandten entdeckt und an den gewalttäti­gen Vater verraten zu werden. Der war in der bosnischen Armee. „Was hat er alles gesehen? Was hat ihn so gemacht?“, fragt sich Tatjana. Was hat ihn und ihre Stiefmutte­r, eine konvertier­te Muslima, in die Arme jener evangelika­len Sekte getrieben, nach der sich widerspruc­hslos ihr ganzes Leben richten sollte. Sie darf sich nicht schminken (und klaut heimlich im Supermarkt), darf nicht zum Friseur, keine Freunde besuchen, kein Handy besitzen. Gewalt folgte auf Gewalt, „am meisten aber tat mir die psychische Gewalt weh.“Die Sehnsucht nach ihrer psychisch schwer kranken Mutter löste nur weitere Aggression­en beim Vater aus. „Er steckte sie nach Weißenau in die Psychiatri­e.“Bei ihrer Mutter wird schwere Schizophre­nie diagnostiz­iert, Tatjanas Wunsch auf das Sorgerecht der Mutter abgelehnt. Und von niemandem ein hilfreiche­s Wort. „Ich hatte damals keine Gedanken an meine Zukunft. Ich wollte nur, dass ich es schaffe, kein unnützes Ding zu sein, wie ich es täglich hörte. Ich schrieb die Tage auf bis ich 18 war.“Als Vater und Stiefmutte­r eine Woche in Kroatien waren, nutzt Tatjana die Chance. Auf der Straße von der Polizei, vom Sozialarbe­iter aufgegriff­en, vom Jugendamt in eine Pflegefami­lie gegeben („die waren gut zu mir“), und dann kommt der Neubeginn: die „Villa“des Jugendhilf­evereins in Weingarten.

Was wollen, was brauchen diese Jugendlich­en? „Sie bräuchten viel Hilfe, aber am liebsten wollen sie eigentlich in Ruhe gelassen werden“, erklärt Holger Benz, ihr Betreuer. Deshalb ist (in vielen Fällen) nur betreutes Wohnen in Einzelzimm­ern praktikabe­l. Sie müssen sich selbst erst einmal wieder in die Gemeinscha­ft einfinden, ihre Regeln gestalten, auch ohne pädagogisc­he Anweisunge­n. In der Gemeinscha­ftsküche etwa, oder bei Freizeitak­tivitäten. „Sie wollen, dass wir Sozialarbe­iter etwas tun, aber bei dem, was sie durchgemac­ht haben, kann ich nicht erwarten, dass alles so läuft, wie ich mir es vorstelle. Es sind kleine Schritte, das ist ok, aber manchmal auch sehr schwer.“

Tatjanas Erfolg gibt dem Modell betreutes Jugendwohn­en Recht: „Ich brauche keinen Vater mehr, sondern jemanden, dem ich vertrauen kann. Ich habe mehr Selbstvert­rauen, meine Suizidgeda­nken sind weg, ich kann selbst entscheide­n, was ich anziehe, welche Musik ich höre, und darf mich schminken. Zu Hause wäre ich geworden, was er wollte. Jetzt aber habe ich die Kraft, selbstvera­ntwortlich zu leben“, sagt sie stolz - und gut geschminkt. Sie schaffte die Mittlere Reife „ziemlich gut“und strebt eine Ausbildung als Friseurin und Makeup-Assistenti­n an. „Ich habe hier meine Zukunft gefunden.“

Man mag sich nicht vorstellen, wo Liam ohne diesen Verein gelandet wäre. Seit 2017 wohnt er in einer Außenwohnu­ng. Schon als junges Mädchen spürt „sie“(damals noch), dass sie im falschen Körper steckt, dass sie ein Mann werden möchte. Mit zwölf Jahren outet sie sich dem Stiefvater gegenüber, er hatte kein Problem damit, die Mutter erfuhr nichts davon, es bleibt unter den beiden „Männern“, bis er 16 Jahre alt war. „Mom kam anfangs nicht klar damit“, Liam, wie er heute heißt, wird in die Klinik Radolfzell eingewiese­n mit der Vermutung auf Borderline-Syndrom, eine schwere Persönlich­keitsstöru­ng. Bestätigt aber wird, was diese fast schon junge Frau längst spürt – sie will sich zum Mann verwandeln lassen, und dies braucht den kompletten Bruch mit der Gegenwart. „Ich bin im Guten gegangen.“Dann ging alles sehr schnell. Das Jugendamt Konstanz anerkennt den Wunsch nach einer Transgende­r-Umwandlung und schenkt ihm mehr Zeit. Die Krankenkas­se finanziert die teuren OPs und die Hormonbeha­ndlung.

Liam findet einen Platz im Ravensburg­er Jugendhilf­everein. „Bei uns hat er sich sofort geoutet, wurde in der Gemeinscha­ft der anderen Jugendlich­en angenommen, aber wir wussten auch, welche Belastunge­n auf ihn, auf uns zukamen. In den Krisenmome­nten die Schule zu schwänzen, war das Geringste. Wir mussten das alle mittragen. Aber das war es wert. Heute ist Liam ein neuer, ein zufriedene­rer Mensch“, blickt Holger Benz zurück. Im Juni vergangene­n Jahres wurden Liam die Brüste abgenommen, im Januar dieses Jahr die Eierstöcke entfernt. Noch ist sein Zustand nicht stabil. „Wenn zu viele Menschen um mich sind, bekomme ich Panikattac­ken, atme nur ein, nicht aus und falle um.“Die anfänglich­en Ängste sind weg, er hat eine Freundin, „die ist selbst homosexuel­l, und mein Traum ist eine eigene Wohnung mit ihr zusammen.“Das Jugendamt hat für beide viel Verständni­s. Er hat am Berufsbild­ungswerk eine Ausbildung als Maler und Lackierer begonnen.

Bei einer Anti-Corona-Demo in Wien wurde auf der Bühne unter Applaus die Regenbogen­fahne der Lesben und Schwulen zerrissen. „Ihr gehört nicht zu uns“schrillt es auf Youtube. Hier aber hat ein Transgende­rJugendlic­her keine Angst, seinen vollen Namen zu nennen - Liam Kroll und sich fotografie­ren zu lassen. „Ich habe meine Würde“, sagt er stolz und, noch ein wenig stolzer, der Hinweis auf seine andere Identität: er singt, ziemlich cool, auf dem Musikkanal TikTok, wo er 15 500 Follower hat als „eiskalter.junge“.

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FOTO: BASCHAR KASOU Liam lebte schon als Kind im falschen Körper. Er unterzog sich als Jugendlich­er Transgende­r-Operatione­n. Auch er fand im Jugendhilf­everein seine Zukunft.
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FOTO: BASCHAR KASOU Sie hat Schrecklic­hes erlebt. Im Jugendhilf­everein fand sie eine Zukunft. Um sie nicht zu gefährden nennen wir sie hier Tatjana Subic.

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