Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Sonntagabend, 20.15 Uhr
50 Jahre „Tatort“und kein Ende – Die Vielfalt ist das Geheimnis des Dauerbrenners
Für viele ist es ein Ritual: Sonntagabend, Punkt 20.15 Uhr, aufs Sofa lümmeln und „Tatort“schauen. Die älteste Krimireihe Deutschlands schafft auch nach 50 Jahren noch, was sonst nur den Fußballern der Nationalmannschaft gelingt, pardon: gelungen ist. Der „Tatort“verbindet eine Gemeinschaft von Menschen – im Schnitt sitzen neun Millionen vor dem Fernseher –, die zum selben Zeitpunkt dasselbe erleben. Und die sich am nächsten Tag in der Schule, im Büro, mit den Nachbarn darüber auslassen, ob der „Tatort“genial oder mal wieder völlig daneben war. Viele nennen den „Tatort“das Lagerfeuer der Nation. Weniger pathetisch könnte man ihn einfach als den letzten Dauerbrenner in deutschen Wohnzimmern bezeichnen.
„Heben Sie mir den ,Kommissar’ aus dem Sattel!“, forderte 1970 Horst Jaedicke, der ARD-FernsehspielChef, seinen Redakteur Gunther Witte beim WDR auf. Eric Ode war als ZDF-Ermittler am Freitagabend nämlich äußerst erfolgreich. Die ARD sah ihre bis dahin unangefochtene Rolle des Ersten Deutschen Fernsehens schwinden (das ZDF gab es erst seit 1963). Witte war zunächst eher ratlos als inspiriert. Aber da Not ja erfinderisch macht, kam ihm die Idee, die anderen Sender des ARDVerbunds in die geplante Krimireihe mit einzubinden. Die Last wurde auf mehreren Schultern verteilt.
Die Rechnung ging auf, auch wenn der Start ein Etikettenschwindel war. Denn weil alles schnell gehen musste, zog der WDR den bereits abgedrehten zweiten „Trimmel“-Krimi aus der Schublade und strahlte ihn am 29. November 1970 unter dem Titel „Taxi nach Leipzig“als ersten „Tatort“aus. Die erste „Trimmel“-Folge, 1969 schon gezeigt, wurde als achter „Tatort“hinterhergeschickt. Gelungene Wiederverwertung nennt man das. Die Kritiken waren zunächst durchwachsen, aber schon damals zeigte sich der Vorteil der föderalen Länderstruktur: Kein „Tatort“-Ermittler war wie der andere, und so war schon damals für jeden Zuschauergeschmack etwas dabei.
Auch die Wissenschaft ist sich nicht zu schade für „Tatort“-Forschung. Ein Standardwerk hat Stefan Scherer, Professor für Germanistik am KIT (Karlsruher Institut für Technologie) mit Christian Hißnauer und Claudia Stockinger 2014 geschrieben: „Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Reihe ,Tatort’ im historischen Verlauf“. 500 Folgen aus 40 Jahren haben die Wissenschaftler in ihre Einzelteile zerlegt, die Toten gezählt, geschaut, warum und wann jemand zum Opfer wurde, welcher sozialen Schicht der Täter entstammt – kaum ein Aspekt, der in dem 500 Seiten dicken Wälzer nicht berücksichtigt wurde. Scherer ist in diesen Jubiläumstagen ein gefragter Experte, doch im Gespräch ist die Begeisterung
für das Sujet ungebrochen. „,Tatort’-Gucken um 20.15 Uhr ist immer noch ein Live-Ereignis, und dafür nutzen die Zuschauer das LiveMedium Fernsehen. Das wird nicht ersetzt durch Mediatheken oder Streamingportale. In diesen 90 Minuten am Sonntagabend wissen die Zuschauer, dass andere dasselbe tun. Die Wissenschaft nennt das eine imaginäre Gemeinschaft.“
Die wichtige Frage ist aber, wie eine Fernsehreihe – es ist keine Serie, denn die hätte immer dieselben Protagonisten – Zuschauer seit 50 Jahren an sich bindet. Christine Hämmerling, Empirische Kulturwissenschaftlerin an der Universität Zürich, hat zum „Tatort“und der „Sozialen Positionierungen eines Fernsehpublikums“promoviert. „Ritual“ist für sie ein Schlüsselwort. „Tatort“-Schauen strukturiert ein Wochenende, beschließt es. Was sie auch herausgefunden hat: Mit dem „Tatort“macht man sich in einer Gesprächsrunde nicht lächerlich, anders als beim Bekenntnis zu „Rosamunde Pilcher“. Eine „soziale Aufwertung“nennt die Kulturwissenschaftlerin das.
Der Handlungsaufbau der ersten Jahre war simpel: Eine Leiche in den ersten Minuten, ein Kommissar mit Krawatte sucht und findet in den folgenden knapp eineinhalb Stunden den Täter. Die Folge „Rot – rot – tot“(1978) war und ist die „Tatort“-Folge mit den bislang meisten Zuschauern, nämlich unglaublichen 26,57 Millionen und einem Marktanteil von 65 Prozent. Curd Jürgens spielte damals den Täter, einen distinguierten Mathematiker mit Villa am Stuttgarter Killesberg. Jürgens geht nicht einfach ins Wohnzimmer zum Verhör durch den Ermittler Lutz (Werner Schumacher), ein imaginärer Vorhang geht auf, der charismatische Schauspieler betritt die Bühne und doziert mit seiner unverwechselbar tiefen Stimme. Großes Theater.
Aber es ging auch anders: Ein Jahr zuvor lief „Reifezeugnis“, die in der „Tatort“-Geschichte am meisten wiederholte Folge, mit Klaus Schwarzkopf als Kommissar Finke – und Nastassja Kinski. Es sei dahingestellt, wer mehr zum Erfolg beigetragen hat: das junge Regie-Talent Wolfgang Petersen (der später mit „Das Boot“den Sprung nach Hollywood schaffte), oder die 15-jährige Kinski, die ein Hauch von „Schulmädchenreport“in die Wohnzimmer brachte.
Der „Tatort“war schon damals Spielwiese für filmische Experimente, Ins Drehbuch kam, was die Gesellschaft umtrieb. Das hatte schon Erfinder Gunther Witte festgelegt: Der „Tatort“müsse „die Geschichte der Bundesrepublik spiegeln“. 22 Teams ermitteln derzeit in den unterschiedlichen Ecken der Republik, je eins in der Schweiz und in Österreich. Die Zuschauer müssen nicht jeden Ermittler mögen. Aber wenn einer von fast niemandem gemocht wird, ist er bald wieder raus aus der „Tatort“-Familie. Ein Schicksal, das im vergangenen Jahr den Saarbrückener Ermittler Stellbrink (Devid Striesow) ereilte, der – erfolglos – mit seinem speziellen Humor den Münsteranern Boerne und Thiel Paroli bieten sollte.
Ein Flop bringt die Reihe nicht ins Wanken. Neue Kommissare, neues Glück. Hansjörg Felmy war als Essener Kommissar Haferkamp in den 70ern zwar sehr beliebt. Doch befand der WDR 1981 die Zeit reif für einen Abschied von Hemd und Krawatte. Schimi, die Urgewalt aus dem Pott mit Schmuddeljacke und Schnauzer, mischte die gerade mal zehn Jahre alte Reihe gehörig auf. Götz George hat die Rolle des Duisburger Prolls entscheidend mitgestaltet. Sein Horst Schimanski hatte nichts zu tun mit den väterlichen Kommissaren. „Mit jedem Tag erhöht sich die Zahl derer, die mich am Arsch lecken können“, sagte George auf die Frage nach seiner Lebensphilosophie. Das hätte Schimanski so auch gesagt. Zwei Schimi-Fälle kamen sogar ins Kino. Das schaffte nach ihm nur noch ein anderer Haudegen, Nick Tschiller (Til Schweiger), allerdings weit weniger erfolgreich.
Im Süden liebte man hingegen den gemütlichen Bienzle (DietzWerner Steck), das schwäbische „Columbole“mit Trenchcoat und Hut. Er löste von 1992 bis 2007 seine Fälle in Stuttgart. Seine Kollegin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) aus Ludwigshafen ist mit 31 Jahren im Amt die dienstälteste Ermittlerfigur.
Doch in den 90ern schwächelte der „Tatort“, das Privatfernsehen mit seinen amerikanischen Serien zog Zuschauer ab. Die Antwort war 2002 das Duo Boerne und Thiel (Jan Josef Liefers und Axel Prahl). Die Folgen aus Münster sind mit durchschnittlich 13 Millionen Zuschauern die absoluten Quotenbringer. Das Publikum goutiert die leichte komödiantische Kost zum Wochenende. Und für Liebhaber des schwarzen Humors wurde Kommissar Murot (Ulrich Tukur) in Wiesbaden erfolgreich etabliert.
Zum Schluss ein paar Worte über das liebe Geld. Siegfried Tesche hat, neben vielen anderen Fakten und Anekdoten, in seinem Buch „50 Jahre Sonntagsmord“die Gehälter der Kommissare gelistet. Wenig überraschend erhalten Til Schweiger und die Komiker aus Münster am meisten, nämlich zwischen 200 000 und 300 000 Euro pro Folge. Die Österreicher Adele Neuhauser und Harald Krassnitzer schmücken das Ende der Liste mit 30 000 Euro Gage pro Folge.
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