Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Kriegsspiele im Ärmelkanal
Trotz Drohkulisse verhandeln London und Brüssel weiter über das Brexit-Abkommen
LONDON - Brexit-Gezerre und kein Ende: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Premierminister Boris Johnson haben am Sonntag weitere Gespräche vereinbart. Anders als nach ihrem Abendessen am vergangenen Mittwoch setzten beide Seiten diesmal keine Frist für die Verhandlungen über die zukünftige wirtschaftliche Zusammenarbeit. Es sei „verantwortungsvoll, eine zusätzliche Meile zurückzulegen“, hieß es in der gemeinsamen Erklärung.
Von der Leyen sprach in Brüssel von einem „konstruktiven und nützlichen“Gespräch. Johnson betonte in London hingegen, die Vorstellungen seien weiterhin „sehr weit voneinander“entfernt. Erneut forderte er sein Land dazu auf, sich auf ein chaotisches Ende der Übergangsfrist (No Deal) an Silvester vorzubereiten. Man werde dann eben nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO mit dem größten Binnenmarkt der Welt zusammenarbeiten, sagte der konservative Regierungschef.
Wie seit Monaten drehen sich die Gespräche vor allem um drei Streitpunkte: faire Konkurrenzbedingungen, das sogenannte level playing field; die Schlichtungsinstanzen bei zukünftigen Konflikten der Vertragsparteien sowie die Fischerei in der Nordsee und im Ärmelkanal. 95 Prozent der Hunderte Seiten starken Vereinbarung sind aber unterschriftsreif.
Von anonymen Einflüsterern in der Downing Street gefüttert haben die Londoner Medien in den vergangenen Tagen den Briten immer neue Bösewichte vorgestellt, die für die Blockade
verantwortlich seien. Mitte der Woche fiel die Rolle EU-Chefunterhändler Michel Barnier zu; dieser habe nach einer coronabedingten Abwesenheit von den Gesprächen neue Bedingungen ins Spiel gebracht. Einer EU-Darstellung zufolge drängte Johnson von der Leyen am Mittwoch dazu, den „einfallslosen“Franzosen abzulösen. Das kam bei von der Leyen ebenso schlecht an wie Johnsons witzig gemeinter Appell an ihre deutsche Herkunft: Deutsche und Briten wüssten doch beide, „wie schwierig die Franzosen sein können“.
Die Schlagzeilen am Wochenende widmeten sich der angeblichen Blockadehaltung
von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und feierten die bevorstehende Entsendung von Kanonenbooten in den Ärmelkanal. Dort seien die 80 Meter langen Hochsee-Patrouillenboote der RiverKlasse dazu befugt, „französische Fischkutter“zu entern, berichtete die „Times“. Man stelle sich auf „einen Aufstand“der mehr als 6000 Boote starken französischen Fischflotte ein, berichtete die „Sunday Times“.
Den vom Verteidigungsministerium bestätigten Bereitschaftsdienst der Navy-Schiffe nannte der konservative Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Unterhaus eine „leere
Geste“gegenüber einem engen NatoVerbündeten. Die ohnehin strapazierten Schiffe, Patrouillenflugzeuge sowie Drohnen der Navy seien vollauf beschäftigt damit, die Bedrohung durch Terrorismus und Menschenhandel sowie die russische Kriegsmarine im Auge zu behalten, sagte Reserve-Oberstleutnant Tobias Ellwood.
Am Sonntag brachte die „Mail on Sunday“einen anderen Lieblingsfeind britischer Brexiteers ins Spiel. Bundeskanzlerin Angela Merkel wolle die Briten für einen Deal „über Glasscherben kriechen“lassen, meldete das Revolverblatt unter Berufung auf eine anonyme Quelle. Der frühere Chefredakteur der „Financial Times“, Lionel Barber, nannte die Schlagzeile lächerlich: Merkel „benutzt solche Redewendungen nicht und interessiert sich nicht für Bestrafungen“.
Der Fokus auf Paris und Berlin, analysiert Ivan Rogers, spiegele Johnsons Überzeugung wider, der Streit mit der EU lasse sich durch Gespräche mit den beiden wichtigsten EU-Mitgliedern lösen. Der frühere britische EU-Botschafter war 2017 zurückgetreten, weil die damalige Premierministerin Theresa May mit seiner skeptischen Haltung nicht zufrieden war. Nun bestätige sich aber, was er von Anfang an mitgeteilt habe, sagte Rogers der BBC: Anders als von Brexiteers wie Ex-Minister Liam Fox mitgeteilt sei der angestrebte Handelsvertrag nicht „der einfachste von der Welt“, sondern im Gegenteil besonders schwierig. „Alle anderen Verhandlungen haben den Abbau von Barrieren und größere Nähe zum Ziel, bei dieser Gelegenheit soll größere Distanz erreicht werden.“