Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Corona-Hotspot Büro?
Grüne fordern Bußgelder für Unternehmen ohne Homeoffice – Arbeitgeber warnen vor weiteren Einschränkungen
BERLIN/RAVENSBURG (dpa) - Es ist für Millionen von Beschäftigten die neue Normalität: Arbeiten von zu Hause. Vor Beginn der Corona-Pandemie war Homeoffice die Ausnahme, nun ist die Arbeit im heimischen Wohnzimmer oder am Küchentisch für viele zum Alltag geworden. Aber geht noch mehr und soll es statt Appellen der Politik Vorgaben für Firmen geben, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen? Angesichts der Verlängerung des Lockdowns bis Ende Januar hat die Debatte wieder Fahrt aufgenommen.
Bund und Länder hatten nach ihren Beratungen am Dienstag die Arbeitgeber „dringend gebeten“, großzügige Homeoffice-Möglichkeiten zu schaffen, um bundesweit den Grundsatz „Wir bleiben zu Hause“umsetzen zu können. Zugleich aber sollten Schulen und Kitas geschlossen bleiben – auch wenn es nun in Ländern frühere Öffnungen gibt. Auf Twitter setzte eine Debatte ein unter dem Schlagwort #MachtBueroszu. Nutzer erzählen etwa Geschichten aus ihrem Alltag über eine Präsenzpflicht und dass sie dann mit der U-Bahn ins Büro fahren müssen, trotz der hohen Corona-Neuinfektionszahlen.
Die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt fordert nun ein Recht auf Homeoffice für Arbeitnehmer samt Bußgeldern für uneinsichtige Firmen. „Wir brauchen eine Corona-Arbeitsschutzverordnung, die Unternehmen verpflichtet, überall dort, wo es möglich ist, Homeoffice jetzt auch anzubieten“, sagte Göring-Eckardt der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Wo Arbeitgeber uneinsichtig seien und ohne Grund Präsenz am Arbeitsplatz einforderten, müsse „mit Bußgeldern Druck gemacht“werden. Die Bundesregierung habe eine klare Verantwortung und die rechtliche Möglichkeit, bundeseinheitliche Regeln zu erlassen.
Auch die neue Juso-Chefin Jessica Rosenthal hatte am Freitag Bund und Länder dazu aufgerufen, Arbeitgeber stärker in die Pflicht zu nehmen. „Es ist doch ein Armutszeugnis, dass man sich nicht dazu durchringen konnte, mehr zu formulieren als eine freundliche Bitte, doch Homeoffice möglich zu machen.“Arbeitnehmer müssten besser geschützt werden.
Für den Präsidenten des Digitalverbandes Bitkom, Achim Berg, ist es ein „zwingendes Gebot für die gesamte Dauer der Pandemie, ausschließlich im Homeoffice zu arbeiten, sofern es die berufliche Tätigkeit zulässt“. Am größten sei der Handlungsbedarf in der öffentlichen Verwaltung. Das noch immer weit verbreitete Festhalten an der Präsenzkultur sei anachronistisch.
Aktuell arbeitet jeder vierte Berufstätige ausschließlich im Homeoffice, wie eine repräsentative Befragung im Bitkom-Auftrag von Anfang
Dezember ergab. Das entspreche 10,5 Millionen Berufstätigen. Auf weitere 20 Prozent treffe das zumindest teilweise zu. Vor dem Beginn der Pandemie hatten demnach nur drei Prozent der Berufstätigen ausschließlich im Homeoffice gearbeitet, weitere 15 Prozent teilweise. Der am meisten genannte Nachteil: Der fehlende persönliche Austausch mit den Kollegen.
In vielen Branchen ist allerdings Homeoffice gar nicht möglich, das gilt etwa für den Lebensmitteleinzelhandel, den Pflegebereich oder Industriefabriken, in denen zum Beispiel Autos gefertigt werden – und einen kompletten Lockdown, in dem auch Produktionswerke dichtmachen müssen, gibt es nicht.
„Fast 60 Prozent der Beschäftigten in Deutschland können nicht von zu Hause aus arbeiten, häufig weil ihre Arbeit einen Dienst an anderen Menschen beinhaltet“, sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher. Unternehmen hätten bereits jetzt zu kämpfen, diese Pandemie zu überleben. Die Regierung sollte sie stärker unterstützen. Mit gesetzlichen Vorgaben zum Homeoffice würde die Regierung
mehr Schaden anrichten als helfen. Das Münchner ifo-Insitut schätzt die Zahl der Beschäftigen, die nicht von zu Hause arbeiten könnten, niedriger ein. Laut einer aktuelle Studie liegt sie bei 44 Prozent.
Gewerkschaften fordern klare Regeln. „Niemand will die Arbeit am Band bei Daimler oder die Altenpflege ins Homeoffice verlagern“, sagte der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann. „Aber da, wo mobiles Arbeiten möglich ist, sollte man den Menschen einen Anspruch auf mehr Zeitautonomie gewähren.“Das beinhalte beispielsweise das Recht auf Nichterreichbarkeit oder eine geregelte Arbeitszeiterfassung. „In Deutschland werden jährlich mehr als eine Milliarde Überstunden geleistet, die von den Arbeitgebern nicht entlohnt werden. Das ist nichts anderes als Lohndiebstahl. Das darf sich durch mehr Homeoffice nicht weiter verschlimmern“, sagte Hoffmann.
Dazu kommt: „Oft wünschen sich Beschäftigte mobiles Arbeiten, aber der Arbeitgeber erfüllt ihnen diesen Wunsch nicht“, wie Verdi-Chef Frank Werneke sagte. Genau da will Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ansetzen. Ein Gesetzentwurf sieht vor, dass Arbeitnehmer das Recht bekommen sollen, einen Wunsch nach regelmäßigem mobilen Arbeiten mit ihrem Arbeitgeber zu erörtern. Ein ursprünglich angedachtes Recht auf Homeoffice allerdings ist nicht mehr geplant – die Union ist dagegen.
Völlig zu Recht, wie Rainer Dulger findet. Der Arbeitgeberpräsident weist auch die Forderung von GöringEckardt nach Bußgeldern für Unternehmen, die keine Homeoffice-Möglichkeiten schaffen, zurück. „Überall, wo Homeoffice möglich ist, haben die Unternehmen dies auch ermöglicht. Oft wird übersehen, dass Fertigungsbetriebe und auch viele Dienstleistungen nur laufen, wenn die Beschäftigten auch in den Betrieben vor Ort sind“, sagte Dulger der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.
Dass zurzeit weniger Menschen von zu Hause aus arbeiteten, liegt nach Auffassung Dulgers daran, dass sich der Umgang mit dem Virus geändert habe. „Im Frühjahr wurden zu Recht viele Beschäftigte ins Homeoffice geschickt. Keiner hatte Erfahrung mit dem Virus. Und in den Betrieben waren nicht die Hygienekonzepte ausgerollt“, erklärte Dulger, der als Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände die Arbeitgeberseite von etwa 70 Prozent der Beschäftigten in Deutschland vertritt. Hinzu komme, dass es in manchen Fällen auch gar nicht an den Arbeitgebern liege, wenn Homeoffice-Angebote nicht genutzt werden. „Heute beobachte ich bei meinen Mitarbeitern, die einer Bürotätigkeit nachgehen, zumindest einen Trend, dass man nach einer langen Phase daheim gerne mal wieder in den Betrieb kommt, um auch mal wieder die Kollegen zu sehen – zwar nur mit Abstand, aber immerhin“, sagte Dulger weiter.
Absurd nennt Dulger die Forderung, alle Betriebe und Unternehmen für zwei Wochen zu schließen. „Sie können doch nicht alle Betriebe schließen. Die Menschen müssen weiterhin versorgt und das Land am Laufen gehalten werden. Zudem treiben Sie Unternehmen, die jetzt schon an der Kippe stehen, in die Insolvenz“, sagte Dulger der Zeitung. „Wenn Sie zwei Wochen keine Einnahmen haben, verschärfen Sie die schwierige wirtschaftliche Lage, in der wir uns befinden. Wir müssen die Menschen pandemiegeschützt, so gut es geht, in Brot und Arbeit halten.“
„Das Homeoffice derzeit ist eher eine Notmaßnahme“, sagte Oliver Stettes vom Institut der deutschen Wirtschaft. „Die Diskussion um Regelungen sollte sich auf das Homeoffice im Regelbetrieb beziehen. Dazu gehören dann auch Fragen der Erreichbarkeit und der technischen Ausstattung.“Ein Rechtsanspruch sei der falsche Ansatz. „Homeoffice kann nur produktiv sein, wenn beide Seiten das für sinnvoll erachten, Arbeitnehmer und Arbeitgeber.“Genau das belegen auch Studien mehrerer Ökonomen der Universität Stanford in Kalifornien. Die Forschungen zeigen, dass freiwilliges Homeoffice die Produktivität erhöht, eine Pflicht dagegen Gegenteiliges bewirkt.
Die wichtige Rolle von Kommunikation und Austausch als Grundlage für neue Ideen hatte Christoph Münzer, Geschäftsführer des Wirtschaftsverbands Industrieller Unternehmen Baden (wvib), im Oktober im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“als Argument gegen ein verpflichtendes Homeoffice angeführt. Nicht umsonst hätten Unternehmen in den vergangenen Jahren ihre Büroflächen von langen Reihen eng gestellter Schreibtische in Landschaften mit Besprechungsecken, Sofas und Tischkicker verwandelt. „Büros sind Orte der Kommunikation – ein Forum. Das ist jetzt abgeschnitten“, warnt Münzer. Größere Unternehmen berichteten mehr und mehr, dass die Patentanmeldungen deutlich zurückgegangen sind, denn „der Kommissar Zufall fällt weg“, sagt Münzer – mit Blick auf persönliche Kontakte jenseits von Teams, Zoom und Slack.