Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Falsch abgebogen
Das Urteil im Blutdoping-Prozess gegen den Arzt Mark S. könnte ein wegweisendes werden
MÜNCHEN (dpa/SID) - Anti-DopingKämpfer setzen auf ein Signal gegen Betrüger, Funktionäre und Fahnder hoffen auf eine Bestätigung ihrer Arbeit: Im größten Dopingprozess der jüngeren deutschen Geschichte wird diesen Freitag (11 Uhr) ein womöglich wegweisendes Urteil verkündet: Das Landgericht München II entscheidet, wie der Mediziner Mark S. und vier Helfer für jahrelanges Blutdoping an etlichen Winter- und Radsportlern bestraft werden. Von Schuldsprüchen in dem Strafverfahren ist auszugehen – spannend ist vor allem die Frage nach der Länge der Haftstrafe für den Erfurter Arzt als den Organisator des Sportbetrugs.
Weil – anders als erhofft – an den 23 Verhandlungstagen in München keine weiteren Hintermänner oder prominente Doper enttarnt wurden, geht es vielen Verantwortlichen im Sport nun vor allem um ein abschreckendes Verdikt des Gerichts. Das Sportlerbündnis „Athleten Deutschland“pocht auf ein schärferes Vorgehen „gegen die Hinterleute und Begünstiger von Doping“, wie dessen Geschäftsführer Johannes Herber erklärte. „Deutliche Strafen für die Angeklagten dieses Prozesses wären in dieser Hinsicht ein sehr wichtiges Zeichen.“
Die Staatsanwaltschaft fordert fünfeinhalb Jahre Haft (dazu fünf Jahre Berufsverbot) für den Mediziner. Dieser nahm in dem relevanten Zeitraum von 2015 bis zu seiner Verhaftung im Februar 2019 die Blutentnahmen
und -rückführungen an den Sportlern überall in Europa entweder selbst vor oder organisierte und überwachte die Behandlungen durch seine Helfer penibel über das Handy. Unter der Anleitung von Mark S. sollen zwölf Sportler in etwa 100 Fällen gedopt haben.
Die Verteidiger des geständigen Thüringers wollen eine Strafe von drei Jahren; damit könnte Mark S., der seit fast zwei Jahren in Untersuchungshaft sitzt, theoretisch schon bald freikommen. Folglich plädierten die Anwälte für eine Aufhebung des Haftbefehls. Der Rest der Strafe wäre nach ihrer Meinung auf Bewährung auszusetzen.
Auch für die vier Mittäter forderte die Staatsanwaltschaft Strafen. Komplize Dirk Q. soll eine Gesamtstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten absitzen. Die weiteren drei Mittäter sollen mit Bewährungsstrafen davonkommen
„Seit Monaten blicken wir gespannt nach München, wo der Prozess gegen den Erfurter Arzt Mark S. Einblicke in die Abgründe des Sports liefert“, sagte Alfons Hörmann, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes. Der Funktionär hofft, „dass all diejenigen, die betrogen haben, gnadenlos bestraft werden“, und er prognostizierte: „Das Urteil dürfte Auswirkungen auf den gesamten Weltsport haben.“
Die Strafkammer um die Vorsitzende Richterin Marion Tischler hat zu entscheiden, inwieweit das 2015 verabschiedete Anti-Doping-Gesetz in solchen Fällen anwendbar ist. Experten sprachen bereits von einem Lackmustest. Das Anti-Doping-Gesetz verbietet, Dopingmittel herzustellen, zu veräußern oder zu verschreiben. Ebenso verboten ist die Selbstanwendung eines Dopingmittels ohne medizinische Indikation. Oberstaatsanwalt Kai Gräber, der Chefermittler der Schwerpunktstaatsanwaltschaft in München, räumte in seinem Plädoyer in der vorigen Woche ein, dass mit diesem Verfahren „rechtliches Neuland betreten wurde“. Es ist gut möglich, dass sich nach dem Landgericht in München noch weitere Instanzen der Causa annehmen werden.
Die Verteidiger des Hauptangeklagten Mark S. versuchten in dem Prozess aufzuzeigen, dass Manipulation allgegenwärtig sei. „Doping gehört zum Spitzensport“, sagte Anwalt Juri Goldstein und fasste so Zeugenaussagen von Sportlern zusammen. Sein Mandant habe als verantwortungsvoller Arzt – anders als offenbar sonst üblich bei Dopern – wenigstens die Gesundheit der Athleten nicht gefährdet.
Ein Vorfall, bei dem Mark S. einer Mountainbikerin aus Versehen eine Laborchemikalie verabreicht hatte, spricht freilich gegen diese Darstellung. Die Staatsanwaltschaft will den Thüringer deshalb auch wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt sehen. Außerdem sagte ein Sachverständiger aus, dass bei all den Bluttransfusionen
– teils etwa im Auto auf dunklen Parkplätzen – medizinische Mindeststandards und hämatologische Vorsichtsmaßnahmen nicht eingehalten wurden.
Strafmildernd indes dürfte sich das Verhalten von Mark S. auswirken. Auch nach den Plädoyers am 8. Januar hatte er sich reuig gezeigt. „Ich bin falsch abgebogen, das ist alles meine Schuld. Für die Sch ... , die man verbockt hat, muss man geradestehen“, sagte der Sportmediziner. Zugleich ergänzte er mit Verweis auf seine vier Mitangeklagten: „Den Brandherd habe ich gesetzt, und es tut mir unendlich leid, dass ich die anderen vier da mit reingezogen habe.“
Aufgeflogen war das Dopingsystem durch spektakuläre Razzien im Rahmen der Operation Aderlass im Februar 2019 während der Nordischen Ski-WM in Seefeld sowie in Erfurt. Dabei war in Seefeld der österreichische Skilangläufer Max Hauke in flagranti mit einer Bluttransfusion im Arm erwischt worden. Bekannt ist die Verwicklung von Sportlern aus acht Ländern. Dabei handelt es sich um Athleten aus den Bereichen Radsport, Skilanglauf, Biathlon, Eisschnelllauf und Leichtathletik.
Zu diesen Sportlern gehörte auch der frühere österreichische Radprofi Stefan Denifl, der am Dienstag vom Landesgericht Innsbruck wegen „schweren Sportbetrugs“zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe – davon 16 Monate auf Bewährung – verurteilt worden war.