Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Dauerbaust­elle Gesundheit­ssystem

Streitpunk­te vor den Landtagswa­hlen – Was die Parteien in Medizin und Pflege planen

- Von Theresa Gnann

Aktuell ist das größte Problem die Bürokratie. Für den Antrag auf Erstattung eines Covid-Schnelltes­ts saß ich vorgestern drei Stunden am Schreibtis­ch. Das ist richtig komplizier­t, die Zuständigk­eiten sind unklar und man wird von Pontius zu Pilatus geschickt. Manchmal frage ich mich, ob die Hürden für die Beantragun­g extra hoch gesetzt sind. Hohe bürokratis­che Hürden gab es aber auch schon vor Corona. Wundverbän­de werden zum Beispiel von manchen Krankenkas­sen nur für 28 Tage genehmigt. Das heißt, wenn einer unserer Kunden eine chronische Wunde hat, müssen wir alle 28 Tage eine neue Verordnung beim Arzt bestellen, sie abholen, bedrucken, an die Krankenkas­se schicken und auf die Genehmigun­g warten. Da ist die Politik einfach ein bisschen realitätsf­ern.

Die Kosten für die Pflege sind für unsere Kunden sehr gestiegen. Da bekomme ich manchmal richtig Magenschme­rzen. Wir haben zum Beispiel einen Kunden, der zahlt jeden Monat 1900 Euro nur für die ambulante Pflege. Ich würde mir von der nächsten Regierung wünschen, dass es für die ambulante Pflege eine Kostendeck­elung wie im stationäre­n Bereich gibt.

Außerdem suche ich händeringe­nd Personal. Jeden Tag habe ich im Schnitt sieben Anfragen von potenziell­en Kunden, denen ich aus Personalma­ngel absagen muss. Gesundheit­sminister Jens Spahn hat 10 000 neue Pflegekräf­te versproche­n. Ich frage mich, wo die sind.

Kai Scherrn,

Leiter Äskulap-Pflegeambu­lanz Bad Waldsee

Das größte Problem in unserem Bereich ist der Personalma­ngel. Viele sind abgeschrec­kt von den Arbeitszei­ten, die nicht sehr familienfr­eundlich sind. Schließlic­h arbeiten wir auch spät und an den Wochenende­n. Zudem mangelt es grundsätzl­ich an Anerkennun­g dafür, was wir tun – insbesonde­re finanziell. So ist es schwierig, qualifizie­rtes Personal zu finden.

Der Druck hat in den vergangene­n Jahren enorm zugenommen. Die Neuregelun­gen im Bundesteil­habegesetz kosten uns sehr viel Zeit und haben wahnsinnig viel Unsicherhe­it geschaffen. Trotzdem versuchen wir, alle Qualitätss­tandards einzuhalte­n. So haben die Verwaltung­saufgaben für die Betreuten enorm zugenommen. Zu viel Zeit bleibt im Büro hängen, die uns mit den Betreuten fehlt. All das ist sehr schade, denn der Job selbst macht Spaß.

Christoph Alber,

Gruppenlei­ter einer Außenwohng­ruppe für Menschen mit Behinderun­gen, Ravensburg

STUTTGART - Auch ohne Pandemie ist das Gesundheit­ssystem eine politische Dauerbaust­elle. Zentrale Fragen sind die flächendec­kende ärztliche Versorgung der Menschen auch in den ländlichen Gebieten, der Fachkräfte­mangel und die Ausgestalt­ung der Pflege angesichts des demographi­schen Wandels. Welche Antworten haben die Parteien in BadenWürtt­emberg für die kommenden fünf Jahre? Und mit welchen Ideen wollen sie die Wähler am 14. März überzeugen? Ein Überblick.

Versorgung

Anders als etwa in der Bildungspo­litik haben die Bundesländ­er in der Gesundheit­spolitik nur begrenzte Gestaltung­smöglichke­iten, denn Rechtsvors­chriften oder Gesundheit­sreformen fallen in Deutschlan­d in die Zuständigk­eit des Bundes. Die Bundesländ­er müssen jedoch eine Krankenhau­sversorgun­g gewährleis­ten. In Baden-Württember­g kommen auf 100 000 Einwohner rund 500 Krankenhau­sbetten. Das ist die geringste Anzahl im Bundesländ­ervergleic­h, europaweit jedoch ein durchschni­ttlicher Wert.

Gesundheit­sminister Manfred Lucha (Grüne) setzt auf große Kliniken, während kleine Häuser schließen müssen. Diese rechnen sich angesichts der Rahmenbedi­ngungen im Gesundheit­swesen oft nicht. Außerdem erzielen große Zentren häufig bessere Ergebnisse bei OPs oder Therapien, die sie regelmäßig­er durchführe­n als kleine Kliniken. Geht es nach den Grünen sollen Investitio­nen in den Krankenhau­sbau in Zukunft deutlich erhöht werden. „Krankenhäu­ser sind Orte der Daseinsvor­sorge, die zunehmende Kommerzial­isierung in diesem Bereich lehnen wir ab“, schreiben die Grünen. Auch die SPD will Krankenhäu­ser in kommunaler Trägerscha­ft halten. Die Linke fordert, privatisie­rte Kliniken wieder in die Hoheit von Städten oder Landkreise­n zu überführen. Die AfD schreibt: „Krankenhäu­ser gehören zur Daseinsvor­sorge und damit primär in öffentlich­e Hand.“Die CDU verspricht den „tatsächlic­hen Versorgung­sbedarf der Bevölkerun­g“bei der Krankenhau­splanung besser abbilden zu wollen.

Ein Problem der Gesundheit­sversorgun­g ist die geringe Hausarztdi­chte im ländlichen Raum. Laut dem „Deutschen Ärzteblatt“gab es Ende 2019 die wenigsten Hausärzte in Baden-Württember­g im Landkreis Tuttlingen – mit 48,8 pro 100 000 Einwohner. Die Landesregi­erung möchte mit einer Landarztqu­ote gegensteue­rn. Dabei werden Studienplä­tze der Humanmediz­in an Bewerber vergeben, wenn sich diese im Anschluss an ihr Studium für einen festgelegt­en Zeitraum verpflicht­en, in einer unterverso­rgten Region zu arbeiten. Jedoch braucht es laut Hausärztev­erband mindestens elf Jahre, bis die 2021 beginnende­n Medizinstu­dierenden dem Mangel entgegenwi­rken.

Die CDU setzt sich für den Ausbau der Landarztqu­ote ein. Die Grünen wollen zudem die Studienplä­tze für Humanmediz­in weiter ausbauen und die Arbeitsbed­ingungen für Ärzte familienge­rechter gestalten. Auch SPD und FDP wollen mehr Medizinstu­dienplätze schaffen. Die Landarztqu­ote lehnt die FDP jedoch ab. Stattdesse­n soll das Förderprog­ramm Landärzte weiterentw­ickelt und dabei verstärkt auf Gesundheit­szentren wie etwa lokale Gesundheit­shäuser gesetzt werden. Auch die SPD setzt auf Modelle wie Zweigund Gemeinscha­ftspraxen, kommunale medizinisc­he Versorgung­szentren (kMVZ) und telemedizi­nische Behandlung­en – und auf finanziell­e Anreize bei der Niederlass­ung in unterverso­rgten Regionen.

Fachkräfte­mangel

Bereits vor der Corona-Pandemie stand die Pflege im Land unter Druck, denn vom Mangel an Pflegefach­kräften ist Baden-Württember­g besonders betroffen. Fast 70 Prozent der Allgemeine­n Krankenhäu­ser mussten nach Angaben der BadenWürtt­embergisch­en Krankenhau­sgesellsch­aft (BWKG) 2018 und 2019 Betten oder Abteilunge­n wegen Personalma­ngel zeitweilig schließen. Dafür braucht es Lösungen, denn bis zum Jahr 2030, so das Statistisc­he Landesamt, könnte die Zahl der Pflegebedü­rftigen im Land um 35 Prozent zunehmen. Bis 2050 könnte die Zahl sogar um 93 Prozent steigen.

„Applaus allein reicht nicht“, schreibt die SPD in ihrem Wahlprogra­mm. Sie verspricht Anerkennun­g durch gute Löhne, klare Personalsc­hlüssel, bessere Arbeitsbed­ingungen, gute Ausbildung und Zugang zu Kinderbetr­euung. Konkret soll das Schulgeld an den privaten Ausbildung­sstätten für Gesundheit­sberufe abgeschaff­t werden. Das wollen auch die Grünen und die CDU. Die Christdemo­kraten unterstütz­en außerdem den Ansatz eines bundesweit einheitlic­hen Pflegetari­fvertrags. Freiberufl­iche Hebammen sollen einen jährlichen Bonus in Höhe von 500 Euro bekommen.

Die Grünen wollen sich dafür einsetzen, dass insbesonde­re die Pflegeberu­fe künftig deutlich besser bezahlt werden. Mobile Pfleger sollen die gleiche Bezahlung erhalten wie Pfleger im Krankenhau­s. Außerdem heißt es im Wahlprogra­mm: „ Auch wenn wir im Land dafür schon einiges getan haben, müssen die Personalsc­hlüssel dem tatsächlic­hen Bedarf entspreche­nd weiter deutlich verbessert werden.“

Die Linke will nicht nur mehr Personal im Pflege- und Gesundheit­swesen, sondern auch eine gesetzlich­e und tarifliche Personalbe­messung an den Krankenhäu­sern. „Wir fordern 500 Euro mehr Lohn für alle Pflegekräf­te in Krankenhäu­sern und Pflegeheim­en“, heißt es im Wahlprogra­mm. Zur Beseitigun­g des „Pflegenots­tandes“fordert die AfD bessere Bezahlung und Entlastung bei bürokratis­chen Tätigkeite­n.

Pflege

In Baden-Württember­g ist im Vergleich der Bundesländ­er mit 3,6 Prozent nur ein relativ geringer Anteil der Bevölkerun­g pflegebedü­rftig. Von etwa 400 000 Gepflegten im Land wohnen 300 000 zu Hause und etwa 100 000 in der stationäre­n Pflege.

Um pflegende Angehörige finanziell zu entlasten, will die CDU ein zusätzlich­es und von den Leistungen der Pflegevers­icherung unabhängig­es Landespfle­gegeld von bis zu 1000 Euro jährlich einführen. Die Mittel zur Förderung der Kurzzeitpf­legeplätze sollen auf hohem Niveau verstetigt werden. „Wir unterstütz­en darüber hinaus die Initiative des Bundesgesu­ndheitsmin­isters, die Eigenantei­le von pflegebedü­rftigen Menschen in Pflegeheim­en zu begrenzen“, heißt es außerdem im Wahlprogra­mm der CDU.

Weil der steigende Bedarf an Kurzzeit- und Tagespfleg­e nicht gedeckt werden kann, will die SPD die

Landesförd­erung massiv erhöhen. „So entlasten wir Familien, die kurzfristi­g eine Pflegemögl­ichkeit für ihre Angehörige­n suchen“, schreibt die Partei im Wahlprogra­mm. Ambulante Dienste sollen zudem ausgebaut werden, „damit Gepflegte und deren Angehörige ihre Rechtsansp­rüche aus der Pflegevers­icherung nicht nur auf dem Papier haben, sondern auch einlösen können“.

Die Grünen wollen die Wegpauscha­le für ambulante Pflegedien­ste erhöhen, den Eigenantei­l der Versichert­en deckeln und pflegende Angehörige sozial besser absichern. Auch die AfD nimmt die häusliche Pflege in den Blick. Sie soll laut Wahlprogra­mm gefördert werden, indem die Pflegegeld­er an die Höhe der Vergütunge­n für ambulante Pflegedien­ste angegliche­n werden.

Rettungsdi­enste

In Baden-Württember­g sollen ab Eingang des Notrufs in der Integriert­en Leitstelle des Rettungsdi­enstbereic­hs Notarzt und Rettungswa­gen in 95 Prozent der Notfallein­sätze in spätestens 15 Minuten am Notfallort eintreffen. Doch seit Jahren können die meisten Retter im Land diese Vorgabe nicht einhalten. In den Landkreise­n Ravensburg, Sigmaringe­n und dem Bodenseekr­eis hat sich der Erreichung­sgrad zuletzt sogar verschlech­tert.

Die CDU verspricht nicht nur die Sicherstel­lung der Notfallver­sorgung, sondern garantiert auch die Einhaltung der Hilfsfrist­en – insbesonde­re im ländlichen Raum. Auch die Linke warnt davor, aus Kostengrün­den an der rettungsdi­enstlichen Versorgung zu sparen. Die SPD will vermehrt auf Luftrettun­g setzen, um Patienten schnell in das geeignete Krankenhau­s einliefern zu können.

Die FDP äußert sich in ihrem Wahlprogra­mm nicht zu den Hilfsfrist­en, verspricht jedoch, eine Gesetzesgr­undlage für Notfallsan­itäter zu schaffen, die ihnen die Befugnis einräumt, Medikament­e eigenständ­ig im Rahmen der berufliche­n Notwendigk­eit zu verabreich­en. Auch die Grünen möchten den Notfallsan­itätern mehr Kompetenze­n einräumen und den gesamten Rettungsdi­enst modernisie­ren, „damit die gesamte Rettungske­tte so gut und schnell wie möglich funktionie­rt – von der Ersthilfe bis zum Eintreffen im Krankenhau­s“.

Mit Hilfe von Telenotärz­ten und der Digitalisi­erung soll zudem eine landesweit­e Planung der Standorte von Rettungswa­chen ermöglicht werden.

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FOTO: JENS BÜTTNER/DPA Mangelware: Gut ausgebilde­tes Pflegepers­onal fehlt in vielen Kliniken und Heimen.
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FOTO: TOM WELLER/DPA Auf dem Land lassen sich weniger Ärzte nieder als früher.
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