Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Ich hoffe, wir lernen aus der Pandemie“
Anne-Sophie Mutter ärgert sich über mangelnde Wertschätzung der Kultur durch die Politik
Anne-Sophie Mutter ist eine Kämpferin. Die in München lebende Weltklassegeigerin aus Wehr im Kreis Waldshut engagiert sich in der Corona-Pandemie lautstark für ihre freischaffenden Kollegen. Im Gespräch mit Georg Rudiger kritisiert sie die fehlende Unterstützung durch die Politik, betont die emotionale Kraft der Musik und zeigt auf, welche Lehren sie aus der Krise zieht.
Sie hatten im letzten Jahr eine erzwungene Konzertpause von mehreren Monaten. Ihr nächstes Konzert ist Anfang April in Leipzig. Seit Ihrer Jugend stehen Sie als Solistin auf der Bühne. Können Sie die durch die Pandemie bedingte Entschleunigung genießen?
Alles, was von außen erzwungen ist, empfindet man anders als ein Sabbatical, das ich ursprünglich geplant hatte. Dass der kulturelle Raum von der Politik als Superspreader-Raum dargestellt wurde und wir als Musikerinnen und Musiker ein Berufsverbot auferlegt bekommen, hat ebenfalls nichts mit einer positiven Entschleunigung zu tun. Für die rund 50 000 Soloselbstständigen in der Branche sind die Zeiten ruinös, zumal die sogenannten Novemberhilfen bis Ende Januar noch nicht geflossen sind. Zudem gibt es viele andere Berufstätige, die mit Konzertveranstaltungen zusammenhängen. Wenn ich hier in München im Gasteig ein Konzert gebe, dann sind rund 40 weitere Personen daran beteiligt – von der Garderobe über die Lichttechnik bis zum Catering. Das habe ich so auch dem Ministerpräsidenten Söder und der Bundeskulturministerin Grütters kommuniziert.
Im Augenblick sind die Infektionszahlen so hoch, dass es wohl keine Alternative zum Lockdown gibt. Sind Sie da anderer Meinung?
Ich erwarte zumindest, dass bei den ersten Lockerungen auch die Konzerthäuser wieder geöffnet werden. Eine neue Studie aus Dortmund hat nachgewiesen, dass mit FFP2-Maske so gut wie keine Infektionsgefahr in Konzerthäusern besteht, die wie das Konzerthaus Dortmund über ein effektives Lüftungssystem verfügen.
Sie sind eine der lauten Musikerinnen während der Pandemie und fordern immer wieder mit Nachdruck mehr Wertschätzung für die Kultur seitens der Politik. Haben
Sie das Gefühl, gehört zu werden? Ich habe in vielen Gesprächen mit Kollegen erfahren, dass die Anträge für Hilfsgelder so bürokratisch und undurchsichtig sind, dass selbst Steuerberater nicht damit zurechtkommen. Deshalb sind auch die Hilfen vom Sommer letzten Jahres nur zu einem Bruchteil in Anspruch genommen worden. Zu diesem Thema habe ich erneut im Dezember Frau Grütters einen Brief geschrieben und bis heute noch keine Antwort bekommen.
Der Münchner Komponist Moritz Eggert, neuer Präsident des Deutschen Komponistenverbandes, hat jüngst den Künstlern geraten, sich nicht zu wichtig zu nehmen und angesichts der hohen Infektionszahlen leise zu sein. Man solle erst dann wieder laut werden, wenn die Pandemie im Griff und ein Konzertleben möglich ist. Was halten Sie davon?
Natürlich steht der Schutz des Lebens im Vordergrund. Trotzdem müssen wir uns wehren gegen den pauschalen Vorwurf, der kulturelle Raum wäre ein Raum der Gefährdung. Ich kann nicht nachvollziehen, warum der Besuch eines Museums gefährlicher sein soll als der Einkauf in einem Drogeriemarkt. Musik ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Schon in der Steinzeit wurde getrommelt und Flöte gespielt. Wiegenlieder ziehen sich durch die Menschheitsgeschichte.
Sie haben noch im Dezember mit einem Streichquartett in Kirchen Gottesdienste musikalisch begleitet und dort um Spenden für freie Musikerinnen und Musiker gebeten. Hatten die Pfarrer keine Bedenken, dass ihre Gottesdienste dadurch zweckentfremdet werden? Meine Auftritte wurden häufig gar nicht angekündigt. Die Besuchszahlen für Gottesdienstbesucher sind begrenzt. Musik ist aus der Kirche als emotionaler Verstärker der liturgischen Begleitung nicht wegzudenken. Die Kirche ist der einzige Raum, der uns geblieben ist: ein Raum der Hoffnung, der Begegnung, der Kontemplation, der emotionalen Umarmung. Ich habe mit meinem Quartett auch in Alten- und Pflegeheimen in München gespielt für Menschen, die nur noch wenig emotionale Berührung erfahren dürfen. Das war für mich auch ein Zeichen der Nächstenliebe.
Ihr Leben hat sich wie das Ihrer Kolleginnen und Kollegen durch die Corona-Pandemie stark verändert. Haben Sie sich auch als Person verändert?
Ohne Frage. Ich habe sehr viel Zeit mit meiner Tochter verbringen können, die eigentlich in London lebt – das war ein großes Geschenk. Das Innehalten bietet die Möglichkeit, einen besseren Weg zu finden. Ich werde in Zukunft weniger reisen und mein Leben grundsätzlich entschleunigen. Meinen langgehegten
Wunsch, weniger zu konzertieren, werde ich in die Tat umsetzen. Auch möchte ich mich noch stärker sozial engagieren. Leider wurde mein Benefizkonzert für das Rote Kreuz in der Mailänder Scala verschoben. Damit wollte ich einen großen Dank aussprechen an die vielen Ärztinnen und Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger in den Krankenhäusern. Und auch der Toten gedenken, die in großer Einsamkeit an Covid-19 gestorben sind.
Im vergangenen Jahr haben in der Klassik digitale Formate wie LiveStreamings zugenommen, weil das häufig die einzige Möglichkeit war, als Künstler gehört und gesehen zu werden. Statt teure Eintrittskarten zu kaufen, konnte man Konzerte und Opernaufführungen auf dem Bildschirm zu Hause erleben. Ist das ein Segen oder ein Fluch für die klassische Musik?
Die Streaming-Plattformen können eine zusätzliche Einnahmequelle sein. Manche Angebote wie die Übertragung von Opernaufführungen sind nur gegen Bezahlung zu sehen. Für einige Künstler sind Streamings eine willkommene Möglichkeit, gehört zu werden. Geld verdienen können aber die wenigsten damit.
Mit welchen Gedanken und Gefühlen schauen Sie auf dieses Jahr? Mit der großen Hoffnung, dass die Impfungen zu einer Normalisierung des Lebens führen. Ich denke, dass wir uns mit Corona anfreunden müssen. Wichtig wären grundsätzliche Überlegungen dahingehend, dass wir die Nähe zu unseren vierbeinigen Artgenossen nicht weiter vertiefen, sondern im Gegenteil wieder Schutzräume für Wildtiere schaffen, da alle diese gefährlichen Viren ursprünglich von Tieren stammen. Hier ist ein Umdenken dringend notwendig. In der EU laufen 14 Verfahren gegen Deutschland, weil wir gegen Umweltauflagen verstoßen. Wenn der Mensch gegen die Natur lebt, dann lebt die Natur gegen den Menschen. Ich hoffe, dass wir das aus der Pandemie lernen. Wir können nicht zwischen Lockdowns und Impfkampagnen in die Zukunft trudeln.
Auf was freuen Sie sich am meisten, wenn Sie wieder auftreten dürfen?
Auf meine Kollegen und auf die Zuhörer.