Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Vertrauen in die EU sinkt
Corona-Pannen und andere Fehler hinterlassen ihre Spuren
BRÜSSEL - Großbritannien hat die EU verlassen und zeigt von außen recht erfolgreich, wie ein gut organisiertes Impfprogramm aussieht. Die jüngsten EU-Mitglieder aus Osteuropa scheinen sich immer mehr von den gemeinsamen Werten zu entfernen. Was aber ist mit den verbleibenden Zugpferden der Europäischen Union, wie geht es der berühmten Achse Berlin-Paris? Und wie ist die Stimmung in Italien? Laut einer aktuellen Umfrage wünschen sich 44 Prozent der Franzosen eine stärkere Abschottung von der Welt, nur noch 42 Prozent vertrauen der Europäischen Union. In Deutschland beträgt die Zutrauensrate 50, in Italien 49 Prozent – Enthusiasmus sieht anders aus.
Wo liegen die Ursachen?
Die Covid-Seuche, die derzeit das Leben aller Europäer stark beeinflusst, spielt in zweierlei Hinsicht auch bei der Wahrnehmung der EU eine entscheidende Rolle. Zum einen hat die EU-Kommission trotz fehlender Zuständigkeit das Management der Krise an sich zu ziehen versucht. Die Chefin Ursula von der Leyen hat als selbst ernannte oberste Covid-Bekämpferin keine sehr gute Figur gemacht. Zum anderen lebt das politische Geschäft gerade auf europäischer Ebene vom persönlichen Austausch – und der lässt sich durch Videokonferenzen nicht ersetzen, was dazu führt, dass die europäische Regierungsebene im Lauf des Jahres immer weniger sichtbar geworden ist.
Ist die Kritik gerechtfertigt? Zum Teil. Der hoch umstrittene Liefervertrag mit Astra-Zeneca ist ja mittlerweile ebenso öffentlich zugänglich wie sein Gegenstück für den britischen Markt. Ein Vergleich zeigt, dass die EU-Juristen gut gearbeitet und die gleichen Bedingungen ausgehandelt haben wie die Berater von Boris Johnson. Doch bei den Lieferungen wird die EU als Kunde zweiter Klasse behandelt und scheint dagegen noch kein Rezept gefunden zu haben. Deshalb setzt sich vor allem in den großen Mitgliedsstaaten die Überzeugung durch, dass sie bei einem nationalen Alleingang besser gefahren wären. Obwohl Deutschland bei der Verabreichung der verfügbaren Impfdosen kein gutes Bild abgibt, hält sich hartnäckig das Vorurteil, auch daran sei irgendwie Brüssel schuld.
Kommt bald die Europäische Gesundheitsunion?
Wohl kaum. Seit 14 Jahren gibt es nun die Europäische Krankenversicherungskarte, mit der sich Reisende theoretisch problemlos überall in der EU behandeln lassen und die Kosten über ihre eigene Kasse abwickeln lassen können. In der Praxis wird diese Karte in den seltensten Fällen akzeptiert, der Mehrwert eines europaweiten Systems ist also für die meisten Patienten nicht fassbar. Die gewaltige Kritik am CoronaKrisenmanagement der EU wird zusätzlich dafür sorgen, dass die Bereitschaft der Mitgliedsstaaten nicht steigt, in diesem Feld Kompetenzen nach Brüssel abzugeben.
Welche Aufgaben muss die EU dieses Jahr schultern?
Nichts ist so komplex, wie große Geldmengen sinnvoll unters Volk zu bringen. Mit dem 750 Milliarden Euro schweren Corona-Krisenfonds, für den die EU erstmals eigene Schulden aufnimmt, hat sie sich eine gewaltige Verantwortung aufgebürdet. Denn das Geld soll ihren eigenen Maßstäben zufolge gleichzeitig schnell und nachhaltig ausgegeben werden – ein kaum aufzulösender Widerspruch. Schon mehren sich die Stimmen, die Projektanträge einzelner Mitgliedsstaaten als verdeckte Gießkannenfinanzierung geißeln. Der Geldsegen werde missbraucht, um Haushaltslöcher zu stopfen, statt damit Digitalisierung und Klimaneutralität voranzutreiben. Und dabei wird das Fell eines Bären verteilt, der noch gar nicht erlegt wurde. Denn es haben längst noch nicht alle nationalen Parlamente die nötige Zustimmung erteilt, damit die EU-Kommission sich endlich an den Finanzmärkten Geld beschaffen darf.
Wie steht die EU nach außen da? Hier ist die Bilanz gemischt. Die neue US-Administration versucht die verächtliche Missachtung von Joe Bidens Vorgänger möglichst rasch vergessen zu machen. Der neue Außenminister Antony Blinken nahm Ende Februar sogar per Konferenzschaltung an einem Treffen der EU-Außenminister teil. Gleichzeitig steigen die Erwartungen an Europa, sich klar und entschlossen gegenüber autokratischen Regimen wie China oder Russland zu positionieren. Die berühmte Telefonnummer, die Henry Kissinger dereinst eingefordert haben soll, gibt es zwar inzwischen. Doch am anderen Ende der Leitung meldet sich ein zerstreut wirkender älterer Herr mit sehr mageren Englischkenntnissen: Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.
Wie geht es mit der EU weiter? Die Aussichten sind leider ziemlich düster. Die Europäische Volkspartei steht kurz davor, die ungarische Regierungspartei Fidesz hinauszuwerfen, was die Entfremdung zwischen der EU und ihren osteuropäischen Mitgliedern weiter befeuern dürfte. In Frankreich hat die Euroskeptikerin Marine Le Pen gute Chancen, die Wahl in einem Jahr zu gewinnen. Sogar im traditionell EU-treuen Deutschland mehren sich die Stimmen, die laut fragen, ob nicht der Euro, der grenzfreie Raum und jetzt der gemeinsame Impfstoffkauf ein Riesenirrtum gewesen sind und man auf sich gestellt viel besser fahren würde. Deshalb werden die Europäer in den kommenden Monaten mit großem Interesse Richtung Großbritannien schauen. Wird der Brexit ein Erfolgsmodell, wird er bald Nachahmer finden.