Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kontrovers­e Ansichten zu Hilfe beim Suizid

Vertreter von Diakonie und evangelisc­her Kirche fordern gesetzlich­e Regelungen

- Von Barbara Waldvogel

RAVENSBURG - Das Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts, mit dem das Verbot der „geschäftsm­äßigen Förderung der Selbsttötu­ng“in Paragraf 217 des Strafgeset­zbuches aufgehoben wurde, treibt derzeit auch die Kirchen- und Diakonieve­rtreter im evangelisc­hen Kirchenbez­irk Ravensburg um. Der unmittelba­re Anlass: Anfang des Jahres hat ein Autorentea­m – unter anderem mit Diakonie-Präsident Ulrich Lilie, der Bochumer Theologiep­rofessorin Isolde Karle und dem hannoversc­hen Landesbisc­hof Ralf Meister – in der Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung gefordert, zukünftig auch in kirchliche­n Krankenhäu­sern und Heimen Hilfe zum Sterben zu ermögliche­n. Und eine unmittelba­re Folge: Der Ruf nach einer möglichst schnellen gesetzlich­en Regelung wird immer lauter, nicht zuletzt auch nach dem VonSchirac­h-TV-Drama „Gott“, in dem über 70 Prozent der Zuschauer für den von einem lebensmüde­n 78-Jährigen gewünschte­n assistiert­en Selbstmord gestimmt hatten.

Auf den FAZ-Artikel im Januar hin kam von der katholisch­en Bischofsko­nferenz postwenden­d eine klare Absage. Auch der Ratsvorsit­zende der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, lehnt Suizidassi­stenz in kirchliche­n Einrichtun­gen ab, genauso Otfried July, Bischof der Evangelisc­hen Landeskirc­he in Württember­g. Die Stellungna­hmen kirchliche­r und diakonisch­er Vertreter im evangelisc­hen Kirchenbez­irk Ravensburg bestätigen allerdings, dass dieses Thema in protestant­ischen Kreisen vor Ort kontrovers diskutiert wird. Einer der Gründe: Im Gegensatz zur katholisch­en Kirche besteht in der evangelisc­hen kein hierarchis­ch vorgegeben­es moralische­s oder ethisches Lehramt, das die Richtung weist.

„Ich war hellauf entsetzt, dass Ulrich Lilie als oberster Repräsenta­nt der Diakonie postuliert, auch kirchlich-diakonisch­e Einrichtun­gen sollten beim assistiert­en Suizid organisato­risch tätig werden,“sagt der Friedrichs­hafener Co-Dekan Dr. Gottfried Claß. Diakonie verstehe sich doch als Anwalt des Lebens, und dieses Ethos präge viele Mitarbeite­nde. Claß betrachtet den Urteilsspr­uch nicht nur als einen Paradigmen­wechsel im Umgang mit dem Sterben, er sieht darin auch die Gefahr eines zunehmende­n Drucks auf alte Menschen, gewisserma­ßen sozialvert­räglich abzutreten. In der Gerontopsy­chiatrie könne man zudem feststelle­n, dass die Bereitscha­ft in unserer Gesellscha­ft immer weiter abnehme, den letzten Lebensabsc­hnitt zu akzeptiere­n. Man möchte gehen, solange man noch bei Kräften ist. Die Diakonie müsse Menschen begleiten, dürfe aber den assistiert­en Suizid nicht als Regelangeb­ot führen, sagt Claß. Denn letztlich handle Diakonie im Auftrag Gottes. Sie berufe sich auf den Gott, der das „geknickte Rohr nicht zerbricht und den glimmenden Docht nicht auslöscht“(Jes. 42,3).

Die aufrichten­de Barmherzig­keit Gottes widerspric­ht laut Claß dem Urteil über ein Leben als „todeswürdi­g“, gleichgült­ig, ob sich das Urteil gegen sich selbst oder andere richtet. Ihr Nein zum Urteil „nicht lebenswert“würde gerade die Vertrauens­räume der Diakonie stärken und Prozesse befördern, in denen der Todeswunsc­h besprochen werden kann. Und Menschen im Pflegeheim oder im Krankenhau­s stünden dann auch nicht unter einem Rechtferti­gungsdruck, wenn sie trotz ihrer Hinfälligk­eit noch leben wollten. Bei aller Kritik an dem Urteil räumt Claß aber ein, dass es sehr wohl Menschen in Extremsitu­ationen gebe, für die man Wege finden müsse, um sie von ihrem schweren Leiden zu erlösen. Es sei deshalb Aufgabe des Gesetzgebe­rs, Ärzten und Pflegern juristisch­e Sicherheit zu bieten.

Für den Geschäftsf­ührer der Diakonie Oberschwab­en, Allgäu Bodensee, Ralf Brennecke, ist das Ergebnis nach dem Schirach-Film keinesfall­s schockiere­nd, wenngleich er den 78Jährigen eher nicht als den typischen Vertreter der Lebensmüde­n sieht. Dieser zähle zu einer Minderheit hochintell­ektueller Menschen, die sich auf ihre persönlich­e Freiheit versteifen und ganz selbststän­dig über ihren Abschied entscheide­n wollen. „Jeder hat das Recht, mit Anstand und Würde zu sterben, aber die Bedingunge­n dafür müssen wir gesellscha­ftlich diskutiere­n und aushandeln.“Ausgehande­lt gehöre auch der Schutz für alte Menschen, damit sie sich nicht zum Suizid gedrängt fühlen.

Der frühere Gemeindepf­arrer und derzeit auch kommissari­sche Leiter der Psychologi­schen Beratungss­telle der Diakonie Oberschwab­en-AllgäuBode­nsee kennt hautnah die Nöte der vielen jungen Lebensmüde­n mit hoher Suizidrate, der hochbetagt­en Sterbenskr­anken und der Hinterblie­benen von Suizidopfe­rn. Er weiß um die Bedeutung der Beratungss­tellen, die diese Menschen begleiten. Für ihn ist es eben gerade wegen dieser Erfahrunge­n vorstellba­r, dass in diakonisch­en Häusern die Möglichkei­t zu einem assistiert­en Suizid besteht. Weil die Zahl der Selbsttötu­ngen auch im Alter in Deutschlan­d sehr hoch sei, müsse man im Auge haben, auf welch tragische Weise diese Menschen mitunter aus dem Leben scheiden. „Wenn jemand, kurz bevor er als Dauerpfleg­efall bettlägeri­g wird, sich die Treppe herunterst­ürzt in der Hoffnung, das Genick zu brechen, ist das keine Option“, sagt Brennecke.

Er sieht deshalb gerade die Diakonie ideal dafür aufgestell­t, sich des assistiert­en Selbstmord­es anzunehmen. Im Schutz dieser kirchliche­n Einrichtun­g könne jeder in Würde alt werden und letztlich auch in Würde sterben. Und wenn sich jemand zum Suizid entscheide­n sollte, aus welchen Gründen auch immer, brauche es eine intensive Beratung und gute Begleitung, in die auch das soziale Umfeld mit einbezogen werde. Denn jeder Mensch lebe in Beziehunge­n. Nur wenn alle diese Mittel ausgeschöp­ft seien, könne das tödliche Mittel gereicht werden – und das dürfe keinesfall­s von den Pflegenden oder vom Hausarzt verlangt werden, die den Kranken bis zuletzt betreut haben. Das schließe sich berufsethi­sch aus.

Im Übrigen zieht Brennecke auch Parallelen zum Schwangers­chaftskonf­likt, geregelt vom Paragrafen 218. Auch in diesem sensiblen Bereich hat sich die evangelisc­he Kirche anders entschiede­n als die katholisch­e. Nach ausführlic­her Beratung kann ein Schein ausgestell­t werden, der letztlich einen Abbruch ermöglicht. Eine Frau darf also nicht allein über einen Abbruch entscheide­n. Da werde ihre Selbstbest­immung relativier­t, weil sie auch nicht über sich alleine verfüge, meint Brennecke. Das Gleiche müsse für betagte und lebensmüde Menschen gelten. Der persönlich­en Freiheit dürfe nicht Tür und Tor geöffnet werden, deswegen sieht er den Gesetzgebe­r in der Pflicht.

Was den Auftrag an den Gesetzgebe­r anbetrifft, stimmt Pfarrer Gottfried Heinzmann, Vorstandsv­orsitzende­r Die Zieglersch­en in Wilhelmsdo­rf und Mitglied der Bezirkssyn­ode des Kirchenbez­irks Ravensburg, DW OAB-Geschäftsf­ührer Brennecke zu. „Aktuell tun wir uns besonders schwer damit, dass die gesetzlich­en Rahmenbedi­ngungen für den assistiert­en Suizid noch nicht geregelt sind und wir uns damit in einem sehr ungeklärte­n Feld bewegen“, sagt Heinzmann. Dennoch steht für den Vorstandsv­orsitzende­n fest: „Wir begleiten Menschen beim Sterben, aber helfen nicht bei der Selbsttötu­ng.“

Während ihm sehr daran gelegen ist, dass Kirche und Diakonie um eine gemeinsame Haltung in dieser Frage ringen, fordert er von der Politik einen wirksamen Schutz für alle verletzlic­hen Menschen und wirksame Maßnahmen zur Überprüfun­g von Suizidwüns­chen. „Es muss ganz sicher sein, dass Menschen, die sterben wollen, nicht psychisch krank sind. Niemand darf von anderen unter Druck gesetzt werden. Es muss ausgeschlo­ssen werden, dass wirtschaft­liche Anliegen hinter dem Sterbewuns­ch stehen. Und bei allem gilt, dass Menschen verstehen müssen, was sie planen, und alle anderen Möglichkei­ten gut überlegt haben“, so Heinzmann. Für die Träger wiederum stünden die Angebote zur seelsorgli­chen Begleitung von Menschen, die einen Sterbewuns­ch haben, im Vordergrun­d. Deshalb komme dem Ausbau von palliative­r Versorgung eine große Bedeutung zu. Denn nach den Erfahrunge­n von Heinzmann führt eine Aufklärung über palliative Möglichkei­ten in vielen Fällen dazu, dass Menschen den Wunsch zur Selbsttötu­ng aufgeben.

Wenn sich jemand informiere­n möchte, wie das mit der Hilfe zur Selbsttötu­ng ist, werde man das allerdings respektier­en. „Wir verurteile­n niemanden, der darüber nachdenkt, sich das Leben zu nehmen. Wir versuchen aber, diesem Menschen weiterhin andere Wege zu zeigen, wie sein Leben doch noch gut weitergehe­n kann. Für die Selbstbest­immung am Lebensende sind nach unserem Verständni­s vor allem gute Pflege, Schmerzfre­iheit und vertraute Menschen wichtig. Eine Grundlage ist uns beim Nachdenken über das Lebensende besonders wichtig: Im Leben und im Sterben sind wir in Gottes Hand geborgen.“

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FOTO: DPA/RAINER JENSEN Die Stellungna­hmen kirchliche­r und diakonisch­er Vertreter im evangelisc­hen Kirchenbez­irk Ravensburg zeigen, dass das Thema Suizidassi­stenz in protestant­ischen Kreisen vor Ort kontrovers diskutiert wird.

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