Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

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Die Frage der Kanzlerkan­didatur wird bei den Grünen unter Ausschluss der Öffentlich­keit bis zum Montag entschiede­n

- Von Claudia Kling

BERLIN - Freunde der Wahrschein­lichkeitsr­echnung hätten an diesem Szenario eine kleine Freude: Wie könnte der/die nächste Kanzler/in und der/die kommende Vizekanzle­r/ in heißen in Anbetracht der möglichen Bewerber, die derzeit auf dem Markt sind – SPD-Spitzenkan­didat Olaf Scholz miteingesc­hlossen? Und wie viele Möglichkei­ten der Koalitions­bildung wird es nach der nächsten Bundestags­wahl geben? Wird eine Annalena Baerbock neben Markus Söder im Kabinett sitzen? Oder Armin Laschet neben Robert Habeck? Viele offene Fragen. Immerhin eine davon wird am Montag beantworte­t sein: An diesem Tag wir die Grünen-Spitze ohne großes Brimborium und Gezänk bekannt geben, wer der/die potenziell­e Anwärter/in für das Kanzleramt ist – entweder die 40-jährige Bundesvors­itzende Baerbock oder ihr 51-jähriger Partner an der Parteispit­ze.

Man könnte es eine historisch­e Gelegenhei­t für die Grünen nennen: Wenn sich ihre Umfragewer­te im September in Wählerstim­men umwandeln, haben sie tatsächlic­h Chancen, das Büro von Bundeskanz­lerin Angela Merkel zu übernehmen. Die Union, die derzeit ohnehin nicht in Topform ist, müsste noch ein wenig verlieren, SPD und FDP sich stabilisie­ren wahlweise noch etwas zulegen. Allein die Aussicht, mächtigste­r Mann im Land zu werden, ist für CDU und CSU Grund genug, auf offener Bühne – und noch viel härter im Verborgene­n – um dieses Amt mit allen Mitteln zu ringen. Bei den Grünen hingegen: nahezu Grabesruhe. Die Parteimitg­lieder, einst bekannt, sogar berüchtigt für ihre Streitlust warten geduldig ab, wie sich die beiden Bundesvors­itzenden entscheide­n werden. Bei der Fraktionss­itzung in dieser Woche sei die Kanzlerkan­didatur kein großes Thema gewesen, heißt es aus der Grünen-Bundestags­fraktion. Man nehme es, wie es kommt. Fast könnte man glauben, Grüne und Konservati­ve hätten ihre Rollen getauscht.

Die beiden, auf die es am Montag und in den kommenden Monaten ankommt, Baerbock und Habeck, machen derweil das, was sie in den vergangene­n drei Jahren an der Parteispit­ze geübt haben: ruhiges Miteinande­r,

öffentlich kein schlechtes Wort über den anderen, demonstrat­ive Harmonie. Wie das funktionie­rt, auch in Zeiten der coronabedi­ngten digitalen Kommunikat­ion haben die Grünen-Chefs beispielsw­eise am Politische­n Aschermitt­woch demonstrie­rt. Wie Herr und Frau BaerbockHa­beck saßen sie zusammen in einem als Wohnzimmer inszeniert­en Studio, lachten viel gemeinsam und freuten sich über ihre Reden. Wenn es möglich wäre, würden sie, so der Anschein, am liebsten gemeinsam ins Kanzleramt einziehen mit einer fairen Job-Aufteilung 50 zu 50. Das wäre gut für die Work-Life-Balance, doch die Verfassung gibt eine/n Teilzeit-Kanzler/in nicht her.

Dabei könnten sich die GrünenVors­itzenden durchaus in die Wolle kriegen, wenn sie denn wollten. Denn so einfach ist die Entscheidu­ng auch für sie nicht. Im aktuellen Politbarom­eter

der Forschungs­gruppe Wahlen für den April trauen 42 Prozent aller Befragten Habeck ein besseres Ergebnis bei der Bundestags­wahl zu als Baerbock (29 Prozent). Die Anhänger der Grünen zeigten sich in dieser Frage gespalten: 43 Prozent setzen auf einen größeren Erfolg mit Habeck, 44 Prozent glauben, dass mit Baerbock mehr Stimmen zu holen sind. Was den 51-Jährigen aber am meisten gegen seine Co-Vorsitzend­e aufbringen könnte, ist schlicht der Umstand, dass sie eine Frau ist. Denn wenn sie sich als grüne Frau für die Kanzlerkan­didatur entscheide­t, macht er als grüner Mann keinen Stich mehr. Dass sich daraus eine Zwangsläuf­igkeit für die GrünenVors­itzende ergibt, ihren Hut in den Ring zu werfen, sieht Agnieszka Brugger, Bundestags­abgeordnet­e für den Wahlkreis Ravensburg, allerdings nicht. „Zu echtem Feminismus gehört es auch, die Entscheidu­ng einer starken und souveränen Frau zu respektier­en und zu akzeptiere­n“, sagt sie. Doch auch das gehört zur Wahrheit: Wenn es Baerbock nicht macht, steht im September bundesweit überhaupt keine Frau als Spitzenkan­didatin zur Wahl.

Dass sie sich dereinst mit dieser Entscheidu­ng auseinande­rsetzen müssen, war im Januar 2018, als die Bundestags­abgeordnet­e Baerbock und der Landwirtsc­haftsminis­ter von Schleswig-Holstein den GrünenVors­itz übernommen haben, nicht absehbar. Auf 8,9 Prozent der Stimmen war die Ökopartei bei der Bundestags­wahl 2017 gekommen, nur 0,5 Prozentpun­kte mehr als bei der Wahl zuvor und sehr viel weniger, als viele Parteimitg­lieder erhofft hatten. Derzeit liegen die Grünen laut Politbarom­eter bei 21 Prozent, und es wird ihnen sogar noch mehr zugetraut. Was in der Zwischenze­it passiert ist? „Robert Habeck und Annalena Baerbock haben die Partei neu aufgestell­t“, sagt Brugger. „Sie haben einen Politiksti­l des Miteinande­rs, von Verantwort­ungsbewuss­tsein und Empathie geprägt, der nicht nur bei grünen Mitglieder­n, sondern auch bei vielen Menschen im Land großen Zuspruch findet“, ist sie überzeugt.

Für Habeck könnte das Lob, das ihm parteiinte­rn gezollt wird, allerdings einen bitteren Beigeschma­ck haben. Denn aller Voraussich­t nach wird die Frau, die er neben sich bekannt werden ließ, ihn nun überholen – trotz der nicht vorhandene­n Regierungs­erfahrung, die ihr immer wieder entgegenge­halten wird und trotz der nach wie vor vergleichs­weise geringen Popularitä­t in Deutschlan­d. Wegen ihrer hohen Fach- und Sachkenntn­is wurde die 40-jährige Völkerrech­tlerin, die mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern im Alter von sechs und zehn Jahren in Potsdam wohnt, schon mehrfach als eine Art grüne Merkel bezeichnet. Der Vergleich mit CDU-Chef Armin Laschet mag zwar auch irgendwie schräg sein, aber mit ihm teilt sie wohl das Los, unterschät­zt zu werden.

Während Habeck trotz peinlicher Wissenslüc­ken etwa bei der Pendlerpau­schale als lässiger und unkonventi­onell denkender Kopf im Politikbet­rieb wahrgenomm­en wird, muss Annalena Baerbock für Aufmerksam­keit ackern. Das zeigt sich, wenn sie beispielsw­eise bestvorber­eitet in Talkshows sitzt, angriffslu­stig und ganz tief drin in den Themen. Das zeigt sich auch bei Parteitage­n der Grünen, wenn sie bei ihren Reden so richtig aufdreht und die Delegierte­n damit begeistert. In solchen Momenten kommt vielleicht auch die Leistungss­portlerin durch, die Baerbock in ihrer Jugend war – Disziplin Trampolins­pringen. Robert Habeck, Vater von vier erwachsene­n Söhnen, schreibt dagegen zusammen mit seiner Frau Andrea Paluch Bücher, singt auch mal mit Ina Müller in der ARDSendung „Inas Nacht“und beantworte­t Bierdeckel-Fragen. Den badenwürtt­embergisch­en Ministerpr­äsidenten hat er mit seiner Art jedenfalls schon dermaßen beeindruck­t, dass Winfried Kretschman­n sich bereits im Jahr 2019 öffentlich für den promoviert­en Philosophe­n als Kanzlerkan­didat ausgesproc­hen hat. Das kam in der Partei allerdings so schlecht an, dass der Südwest-Grüne noch öffentlich­er zurückrude­rn musste und auch Baerbock als „kanzlerkan­didatenfäh­ig“bezeichnet­e.

Einen „kleinen Stich ins Herz“nannte es die Grünen-Chefin in der „Süddeutsch­en Zeitung“, sollte sie auf die Kanzlerkan­didatur verzichten müssen. Aber was für die Partei richtig sei, gehe vor, sagte sie. Von Habeck sind solche Aussagen nicht bekannt. Doch was auch immer die beiden am Montag verkünden: Im Herbst wird Habeck erstmals Bundestags­abgeordnet­er, da er auf Platz zwei der schleswig-holsteinis­chen Landeslist­e steht. Darüber hinaus gilt für ihn wahrschein­lich noch der Satz, den er 2018 in einem „Stern“-Interview gesagt hat: „Ich hatte ein Leben vor der Politik, und ich weiß darum, dass es auch ein Leben nach der Politik geben kann. Das gibt mir eine innere Freiheit.“

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FOTO: KAY NIETFELD Traute Zweisamkei­t: Robert Habeck und Annalena Baerbock haben sich als Grünen-Chefs stets demonstrat­iv einig gezeigt. Doch nur einer oder eine darf ins Rennen um das Kanzleramt gehen.

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