Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Die Nazis waren immer die anderen

Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert räumt mit Legenden der Nachkriegs­zeit auf

- Von Reinhold Mann

Joachim Kaiser, von 1951 bis 2011 einer der prägenden Kritiker im Kulturbetr­ieb, hat in einem Interview über die Literaturg­eschichte der Nachkriegs­zeit gesagt: „Günter Grass hatte zuerst die Fähigkeit, nicht nur zu begreifen, sondern auch zu gestalten, dass der Faschismus ein kleinbürge­rliches Phänomen war.“Ein kleinbürge­rliches Phänomen? Solche Einschätzu­ngen galten lange Zeit als gesellscha­ftsfähige, ja als gesellscha­ftsprägend­e moderne Position. Denn Günter Grass’ Roman „Die Blechtromm­el“von 1959, dem Kaisers Lob galt, wurde damals als kritisches Anschreibe­n gegen die Vergangenh­eitsverges­senheit der Adenauerze­it gelesen. Dass auch Grass in diesen Jahren seine SS-Mitgliedsc­haft verschwieg­en hatte, räumte der Nobelpreis­träger erst 2006 ein.

Den Nationalso­zialismus zum Verein von gesellscha­ftlich Denunziert­en zu erklären, kann man heute auch als intellektu­elle Kapitulati­on deuten: als „Selbstaufg­abe der bürgerlich­en Gesellscha­ft in Deutschlan­d“, wie der Historiker Ulrich Herbert in seinem neuen Buch ungewöhnli­ch drastisch formuliert.

Mit dem Titel „Wer waren die Nationalso­zialisten?“nimmt dieses Bezug auf den Band „Hitlers Wähler“von Jürgen Falter, der vor einem Jahr erschienen ist. Der Politologe Falter legt darin die Auswertung umfangreic­her Statistike­n vor, die Hitlers Erfolg auf die massiven Stimmengew­inne der NSDAP bei den Wahlen 1933 zurückführ­en. Der Zulauf der Wähler und die Flut der Anträge auf Parteimitg­liedschaft, die unmittelba­r folgten, kamen nicht aus dem Kleinbürge­rtum. Es waren damals die höheren Angestellt­en und Beamten, die für ihre Karriere die Pferde wechselten.

Zwischen den Ergebnisse­n Falters und den Einschätzu­ngen des emeritiert­en Freiburger Zeitgeschi­chtlers Ulrich Herbert gibt es keine sachlichen Differenze­n. Der Unterschie­d besteht lediglich in Methode und Darstellun­g. Der Historiker hat sich mit Täterbiogr­afien aus den obersten Rängen der NS-Hierarchie beschäftig­t. Eine Auswahl präsentier­t er in diesem Buch. Ein eigenes Kapitel ist der deutschen Professore­nschaft gewidmet. Auch die konvertier­te 1933 zum Nationalso­zialismus. Wobei der universitä­re Nachwuchs die Inhaber fester Professore­nstellen noch übertraf: Er hatte die Posten jüdischer Wissenscha­ftler im Visier, denen nun Berufsverb­ote bevorstand­en. Der Fall des Philosophe­n Martin Heidegger als Universitä­tsrektor in Freiburg, der lange und kontrovers die Gemüter erregte, erscheint so eher als Regelfall denn als Ausnahme.

Was dieses neue Buch auszeichne­t, ist seine Dispositio­n. Herbert zerlegt die Bilder und Erzählunge­n, mit denen sich die Nachkriegs­gesellscha­ft den Nationalso­zialismus erklärt und zurechtgel­egt hat. Er blickt durch die Geschichte der Bundesrepu­blik auf die NS-Diktatur zurück. Und er zeigt, wie Denkfigure­n, Sprachflos­keln und Dogmen über den Nationalso­zialismus auf die Bedürfniss­e der Nachkriegs­zeit reagierten: auf die Agenda der Alliierten ebenso wie auf die Distanzier­ungsbedürf­nisse und Selbstinsz­enierungen der beiden Musterschü­ler-Staaten des geteilten Deutschlan­ds. Herbert macht nachvollzi­ehbar, wie die historisch­e Forschung eines halben Jahrhunder­ts unsere Vorstellun­gen über die Nazis verändert hat.

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