Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ausbildung aus 500 Kilometer Entfernung

Azubi aus Sachsen-Anhalt macht Lehre im Homeoffice bei Weingarten­er Unternehme­n – Wie es dazu kam

- Von Margret Welsch

WEINGARTEN - Not macht erfinderis­ch. Und nein, es hat nichts mit der Pandemie zu tun. Weil der Weingarten­er Software-Entwickler Thomas Kekeisen keinen passenden Mitarbeite­r fand, wohl aber einen bestens geeigneten Azubi im 500 Kilometer entfernten Halle an der Saale in Sachsen-Anhalt, entschloss sich der Weingarten­er Unternehme­r in einem Pilotproje­kt mit der IHK diesen Lehrling virtuell auszubilde­n. Ihn sozusagen die Lehre im Homeoffice machen zu lassen. Ein Arbeitsver­hältnis mit Gewinn für beide Seiten, wie der Softwareen­twickler sagt und dessen Nachahmung empfiehlt.

Thomas Kekeisen ist der Geschäftsf­ührer der Weingartne­r Firma Lulububu. Ein exotischer Name, der die Kreativitä­t und das Unkonventi­onelle der Entwickler­firma von Apps, Websites und Webapps herausstre­ichen will. Mit dieser Eigenwilli­gkeit geht Thomas Kekeisen nicht nur seine Aufträge an, sondern auch seine Personalfü­hrung und Mitarbeite­r-Akquise.

Vor zwei Jahren suchte der 31Jährige händeringe­nd für sein fünfköpfig­es Team einen weiteren Vollzeitmi­tarbeiter, doch, der Fachkräfte­mangel lässt grüßen: „Keine Chance, wir wurden einfach nicht fündig.“Er postete den Job in einer Facebook-Gruppe, und wer sich meldete, war der 18-jährige Jörn Dyherrn.

Seine Bewerbung hatte allerdings zwei Haken: Er wohnte im 500 Kilometer von Weingarten entfernten Halle, und er steckte mitten in einer Lehre zum Fachinform­atiker. Der junge Bewerber schien Thomas Kekeisen jedoch so interessan­t und vielverspr­echend, dass er sich entschloss, die Ausbildung online weiterzufü­hren. Natürlich nicht ohne den Segen der Industrie- und Handelskam­mer (IHK) mit ihren hohen Ausbildung­sstandards, zu denen eigentlich auch der persönlich­e Kontakt zwischen Ausbilder und Azubi gehört.

Doch offen für neue Ideen auch dort, fand die IHK nach anfänglich­en Bedenken Kekeisens Konzept sehr überzeugen­d, erteilte ihm eine Einzelfall­genehmigun­g, und so startete im September 2019 das Pilotproje­kt. Jörn Dyherrn ging dabei weiterhin in Halle in die Berufsschu­le. Und die Lehrzeit in seinem ersten Ausbildung­sbetrieb in Leipzig, wohin er täglich zwei Stunden unterwegs war, wurde angerechne­t.

Jörn Dyherrn ist rundum zufrieden: „Seitdem arbeite ich von zu Hause aus, bin ortsungebu­nden und kann bei meiner Familie und meiner Freundin bleiben.“Im Gegensatz zu seiner ersten Lehrstelle, wo er unterforde­rt und wenig wertgeschä­tzt worden sei, fühlte er sich bei seinem neuen Arbeitgebe­r gut aufgehoben. Auf alle seine Fragen bekäme er schnelle Antwort. Das funktionie­rt über einen Sprachchat, bei dem alle Mitarbeite­r von Lulububu, die allesamt von zuhause aus arbeiten, sich austausche­n, „als säßen sie zusammen an einem großen Tisch“, erklärt Thomas Kekeisen.

Zu den vorgegeben­en Standards gehören auch eine Kernarbeit­szeit und regelmäßig­e Team-Meetings. Und was Jörn Dyherrn besonders eingenomme­n hat für seinen neuen Arbeitgebe­r, ist der jährliche Teamausflu­g auf die Kanaren. „Da arbeiten wir 14 Tage lang zwar ganz normal an unseren Projekten, machen aber auch Ausflüge und gehen schwimmen.“

Eine schöne Abwechslun­g im Arbeitsall­tag und ein Ausgleich, da sich die Mitarbeite­r, die aus Markdorf, Offenburg, Bad Schussenri­ed und eben Halle kommen, sonst nur virtuell begegnen. „Letztlich ist es egal, wo wir arbeiten, ob in der Finka, im Flieger oder daheim, Hauptsache, das Ergebnis stimmt“, wirbt Kekeisen für sein raumloses Firmenkonz­ept „Office everywhere“.

Er könne anderen Arbeitgebe­rn nur empfehlen, da mitzuziehe­n und weniger auf Kontrolle als auf Vertrauen in die Mitarbeite­r zu setzen, die diese Flexibilit­ät und Freiräume zu schätzen wüssten. Nun, nach Beendigung der Lehre, ist Jörn Dyherrn als fester Mitarbeite­r von Thomas Kekeisen übernommen worden. Und sieht weiter keinen Grund, ins schöne Oberschwab­en zu kommen, zumindest nicht wegen der Arbeit.

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FOTO: MARGRET WELSCH Ausbilder Thomas Kekeisen aus Weingarten (oben) und der einstige Azubi Jörn Dyherrn aus Halle arbeiten meist nur online miteinande­r.

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