Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Solidarität im Generationenkonflikt
Ältere sind geimpft und bekommen Grundrechte zurück, Jüngere müssen warten – Warum es dennoch gerecht zugehen kann
BERLIN - Die Impfkampagne in Deutschland läuft. Doch bislang sind vor allem Ältere geimpft und erhalten ihre Grundrechte zurück. Zu Recht, tragen sie doch auch das höchste Risiko für schwere CoronaVerläufe. Die Jüngeren müssen dagegen noch warten. Ein Überblick über eine emotionale Debatte.
Die Ungeduld der Jüngeren Zusammenbrechende Schulplattformen, Ausgehbeschränkungen, Sportund Feierverbot – junge Menschen leiden besonders unter den Pandemiefolgen. Und jetzt auch noch das: Während geimpfte Ältere theoretisch bald sogar wieder zu Ü60-Partys gehen können, müssen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene noch Wochen, wahrscheinlich Monate mitansehen, wie andere immer mehr von den zurückgegebenen Freiheiten profitieren. „Es ist klar, dass Jüngere sich und ihre Interessen derzeit vernachlässigt sehen“, sagt der Jugendforscher Klaus Hurrelmann der „Schwäbischen Zeitung“. Zudem drohen der heutigen Schülergeneration in ihrer Zukunft handfeste wirtschaftliche Nachteile. Das Münchner Wirtschaftsforschungsinstitut ifo hat ausgerechnet, dass der Verlust eines Schuljahr-Drittels im Schnitt ein um drei Prozent vermindertes Lebenseinkommen zur Folge hat. Empfohlen wird ein mindestens einjähriges Aufholprogramm mit Ferienschulen, Nachhilfe am Nachmittag sowie Schulunterricht auch an den Samstagen.
Solidarität der Älteren
Andreas Kruse, Altersforscher an der Universität Heidelberg und Mitglied des Deutschen Ethikrats, ist sicher, dass ältere Menschen in ihrer Mehrzahl bereit sind, auch in der gegenwärtigen Situation Rücksicht auf Jüngere zu nehmen. „Wir beobachten in unseren Studien eine hohe Solidarität der Alten mit den Jungen“, sagt er. Fälle wie im vergangenen Sommer, als von manchen auf die Partyjugend in den Parks geschimpft wurde, seien die Ausnahme. Was die Probleme verschärft. Außerdem sind Ältere ja auch aus sehr gutem Grund geimpft: Erwiesenermaßen verlaufen Erkrankungen im Alter schwerer als bei Jüngeren. Das Alter ist nach heutigem Stand der größte einzelne Risikofaktor für Patienten. Deswegen haben die Ständige Impkommission (StikO) und deren Chef Thomas Mertens bei den Impfprioritäten
ja auch Ältere an die Spitze gesetzt. Ein großes Ärgernis für Jüngere ist aber der Impfsnobismus mancher Älteren. Der Berliner CharitéVirologe
Christian Drosten äußert sich dazu in seinem Podcast: „Wenn über 60-Jährige jetzt sagen, ich nehme doch lieber später Biontech als jetzt Astrazeneca, dann nimmt man im Juni einem Jüngeren die Impfung weg. Das ist nicht in Ordnung.“Zumal die Jüngeren seit über einem Jahr ihr Leben eingeschränkt hätten – „mit Rücksicht auf die Älteren“. Auch Kruse vom Ethikrat betont, es sei „egozentrisch“, bei der Wahl des
Impfmittels nur an sich selbst zu denken, zumal es keine Hinweise auf schwere Nebenwirkungen von Astrazeneca bei Älteren gebe. Hurrelmann von der Berliner Hertie School empfiehlt sogar, bei Impfstoffmangel impfwilligen Älteren nur Astrazeneca anzubieten.
Wie Ältere den Jüngeren jetzt helfen können
Altersforscher Kruse rät geimpften Älteren zum moderaten Verzicht. Zu vermeiden sei, was junge Menschen als Zumutung empfinden könnten. „Diese Sensibilität in sich selbst zu befördern, muss für Ältere jetzt die Aufgabe sein.“Auch Hurrelmann erwartet Rücksichtnahme von Älteren – „aus Würdigung, dass sie während der vergangenen Monate bevorzugt wurden“. Die Jüngeren hätten während der Pandemie bewiesen, dass sie ihre Interessen nicht über alles stellen. Studien zeigten, dass sich „70 Prozent an alle Corona-Regeln halten, vor allem deshalb, weil sie ihre Eltern und Großeltern nicht gefährden möchten“.
Kann der Staat Jüngeren helfen? Die Bundesregierung solle sich mit „einem fundierten Appell“an die Bevölkerung wenden, um für Solidarität zwischen Geimpften und NichtGeimpften zu werben, schlägt Ethikrat-Mitglied Kruse vor. „Da wird man bei älteren Menschen einen bemerkenswerten Resonanzboden finden.“Konkret schlägt er vor, dass Geimpfte die Jungen gezielt fragen, welche Aufgaben sie ihnen im Alltag abnehmen können – bis hin zur Begleitung der Kinder bei Schulaufgaben – und entsprechende Hilfen leisten. Hurrelmann warnt vor einer übereilten Rückgabe sämtlicher Grundrechte an Geimpfte, etwa um ein Restaurant zu besuchen oder Party zu feiern. „Dann könnte Neid aufkommen.“
Kann es in einer Krise gerecht zugehen?
„Es bleibt nicht aus, dass beim Durchimpfen einer ganzen Bevölkerung die einen mehr Handlungsmöglichkeiten haben als die anderen“, sagt Kruse. „Wenn man das den Menschen fachlich gut begründet erklärt, dann wird das in der Regel auch akzeptiert.“Hurrelmann verweist darauf, dass Kinder und Jugendliche es aus den Familien kennen, dass nicht immer alles ganz fair zugeht, beziehungsweise dass Gerechtigkeitsprinzipien immer neu ausgehandelt werden müssen.