Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Familienbande
Warum die Buchhändler Osiander und Ravensbuch fusionieren und welche Rolle Amazon und Thalia dabei spielen
RAVENSBURG - In der Weltliteratur zwischen Thomas Manns Buddenbrooks und Leo Tolstois Karenins verlaufen Familiengeschichten selten besonders erfreulich. Dekadenz, Dünkel und Missgunst führen meist zu einem schlimmen Ende. In der Welt des Buchhandels hingegen sollen Familienbande jetzt einem entfesselten Giganten etwas Kraftvolles entgegensetzen. Noch in diesem Jahr wollen die beiden Unternehmen Ravensbuch (Ravensburg) und Osiander (Tübingen) unter der Marke Osiander fusionieren. Zusammen kommen dabei nicht nur fast 455 Jahre süddeutsche Buchhandelsgeschichte, sondern auch drei älter gewordene Brüder und deren Söhne, zwei noch junge Cousins. An ihrer Seite haben die beiden Zweige der Familie Riethmüller dann im gemeinsamen Kampf gegen Amazon einen Partner, mit dem bis vor Kurzem wohl nicht einmal sie selbst gerechnet hätten: Thalia.
2022 ist es 30 Jahre her, als Michael Riethmüller der Stadt Tübingen, der elterlichen Osianderschen Buchhandlung und seinen Brüdern Hermann-Arndt und Heinrich den Rücken kehrte, um in Ravensburg am Marienplatz gemeinsam mit seiner Frau Margarete Ravensbuch zu gründen. Schnell wurde die Buchhandlung zum Platzhirschen, etablierte sich zu einem gefragten Treffpunkt für Bücherfreunde, lockte und lockt die erste Liga der Autoren zu Lesungen ins Städtchen. 2006 kam die Buchhandlung in Friedrichshafen dazu, 2018 der Laden in Tettnang, 2019 Markdorf. Margarete Riethmüller übergab die Geschäftsführung im gleichen Jahr an ihren Sohn Martin (34), der zwischen den Buchregalen am Ravensburger Marienplatz aufgewachsen ist und heute zusammen mit seinem Vater Michael die Geschicke von Ravensbuch lenkt.
Den ehemaligen Football-Spieler Martin verbindet zudem schon länger eine freundschaftliche Beziehung zu seinem Cousin Christian Riethmüller (46), der nicht nur Bibliophilen, sondern auch Fußballfans ein Begriff ist, seit er Präsident des VfB Stuttgart werden wollte. Christian verdiente sich seine Sporen bei Aldi und führt zusammen mit Vater und Onkel Osiander, das als zweitälteste Buchhandlung Deutschlands heute mit 65 Läden und einem Jahresumsatz von knapp 100 Millionen Euro daherkommt. Vor 425 Jahren Unternehmensgeschichte in Tübingen nehmen sich die knapp 30 Jahre in Ravensburg ähnlich bescheiden aus wie im Vergleich die 7,5 Millionen Euro Jahresumsatz in Oberschwaben und am Bodensee. Doch die beiden jungen Riethmüllers Martin und Christian, selbst inzwischen Familienväter, knüpften bald auch in geschäftlicher Hinsicht Bande. Es passte offenbar: Von einem „Vertrauensverhältnis“spricht der Ravensburger Junior-Chef. Und die Strategie passte auch zueinander. Osiander hat in den vergangenen Jahren auf besonnenes, aber konsequentes Wachstum durch Neugründungen und Übernahmen gesetzt – unter anderem in der Nachbarschaft von Ravensbuch, in Leutkirch, Sigmaringen, Lindau und Wangen.
Vor allem aber verbindet ein gemeinsamer Gegner die beiden Familien: der Versandriese und Onlinegigant Amazon, den viele seiner fragwürdigen Geschäftsmethoden wegen zwar schmähen, dessen
Erfolgsgeschichte aber anscheinend ungebremst verläuft. „Kunden erwarten von uns heutzutage, dass wir der nette und sympathische Buchhändler um die Ecke sind, uns lokal engagieren. Gleichzeitig sollen wir aber im Onlinegeschäft mindestens genauso gut und schnell sein wie Amazon“, sagen Michael und Martin
Riethmüller, Vater und Sohn aus Ravensburg. Die Corona-Pandemie hat auch in dieser Hinsicht den Erwartungsund Erfolgsdruck verschärft. Für die Riethmüllers aus Oberschwaben ein weiteres Argument, um mit der Fusionsidee auf die Verwandtschaft in Tübingen zuzugehen. Denn dort ist seit Kurzem ein neuer
Mitstreiter im Boot, der alle Voraussetzungen mitbringt, im digitalen Markt gegen Amazon standzuhalten: Osiander hat sich zu einer weitgefassten Partnerschaft mit dem nationalen Branchenprimus im stationären Buchhandel entschlossen, mit der Thalia Mayersche. In der Osiander-Vertriebs-Gesellschaft (OVG), an der Thalia die größten Anteile hat, werden IT, Webshop, Einkauf und Logistik vollständig auf der Plattform des neuen Verbündeten betrieben, berichtete das Börsenblatt. Thalia übernimmt damit wichtige zentrale Dienstleistungen für Osiander.
Diese kommen dann künftig auch Ravensbuch zugute, das laut Michael Riethmüller unter neuer Flagge, aber mit dem alten Namen weitersegelt und auch sonst alle Möglichkeiten behalte, seine individuelle Note einzubringen: „Wenn Osiander mit Thalia fusioniert hätte, wären wir nie und nimmer zusammengekommen“, sagt der Ravensburger. So aber müsse man sich nicht mehr in Bereichen nach der Decke strecken, in denen auch mittelgroße und größere Buchhandlungen keine Chance hätten, mit den Riesen der Branche mitzuhalten. „Wir waren in Sachen IT und Onlinegeschäft vergleichbaren Unternehmen immer weit voraus, aber das reicht auf Dauer einfach nicht. Bei Thalia stecken alleine 40 Entwickler dahinter“, erklärt Martin Riethmüller. Wie anfällig dieser neue Teil des Geschäftes ist, musste Osiander erst 2019 bei einem Hackerangriff erleben, der das Unternehmen beinahe lahmgelegt hätte.
Jetzt können Osiander und Ravensbuch auf die Thalia-Infrastruktur und das gesamte Sortiment zugreifen, gleichzeitig aber individuelle „Leuchttürme“setzen, wie die Riethmüllers das nennen: Gelingen soll das mit Buchtipps, Lesungen und den bewährten Mitarbeitern vor Ort, die nach der Fusion alle bleiben sollen. Martin und Michael Riethmüller werden dann Mit-Gesellschafter der Osianderschen Buchhandlung GmbH, Martin wird in die Geschäftsführung von Osiander eintreten und in Ravensburg weiter vor Ort den Hut aufhaben. Geplant ist, die Ravensbuch-Buchhandlungen und den Webshop im September auf das Osiander-System umzustellen und in die Osiandersche Vetriebsgesellschaft einzubringen. Letzterem müssen die Kartellbehörden noch zustimmen.
Dass die Ravensburger Riethmüllers für diesen Schritt in der Branche nicht nur Applaus ernten werden, das erwarten sie. Aus dem Verbund unabhängiger Buchhandlungen hat sich der Senior schon verabschiedet: „Auch vom Umsatz her passen wir da nicht mehr dazu.“Für falsche Romantik aber sei auch kein Platz: „Wir wollten aus einer Position der Stärke heraus handeln. Mich treibt schon auch sehr um, was in Ravensburg mit unseren Geschäftskollegen in der Innenstadt passiert. Wer sich für den digitalen Wandel alleine aufstellen muss, der wird es künftig sehr, sehr schwer haben“, glaubt Michael Riethmüller.
Wie froh man sei, in dieser Situation Familienbande knüpfen zu können.