Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Jeder Tag ist der Horror hier“
Für Menschen mit Behinderung ist Corona eine große Belastung – Betreuer stoßen an ihre Grenzen
WILHELMSDORF - Sie betreuen Menschen, die ihr Leben nicht alleine bewältigen können. Das ist schon von der gesetzlichen Aufgabenstellung her ein schwieriger Job. Die vielfältigen Einschränkungen durch die CoronaPandemie haben die Arbeit der Betreuer noch um ein Vielfaches komplizierter gemacht. Davon berichten Mitarbeiter des Wilhelmsdorfer Betreuungsvereins. Kontakte mit den Betreuten sind eingeschränkt, in Sachen Impfung ist anstrengende Aufklärungsarbeit zu leisten. Sogar für die Begleichung von Bußgeldern, verhängt wegen Verstößen gegen die Corona-Verordnungen, sind die Betreuer zuständig.
Was steckt hinter dem Betreuungsverein? Das erklärt Geschäftsführerin Patricia Huß. Hauptamtliche Betreuer übernehmen hauptsächlich die rechtliche Betreuung von Menschen mit Behinderung, die in den Einrichtungen der Behindertenhilfe der Zieglerschen begleitet werden. Zu den wesentlichen Aufgaben gehören die Vertretung gegenüber Behörden, die Gesundheitsfürsorge, Fragen rund um das Vermögen, aber auch die Aufenthaltsbestimmung. Außerdem unterstützen die Betreuer bei Bedarf auch Personen aus dem familiären Umfeld.
Ein wichtiges Bindeglied zwischen den hauptamtlichen Betreuern und den Betreuten stellen Dorfbewohner dar, die sich im Ehrenamt engagieren. Im Betreuungsverein Wilhelmsdorf übernehmen ehrenamtliche Betreuungspaten wichtige Aufgaben für Erwachsene, die aufgrund verschiedener Einschränkungen ihre alltäglichen Angelegenheiten nicht selbst bewältigen können. Geistige Behinderung oder psychische Erkrankungen können Anlass dafür sein, dass vom Amtsgericht eine Betreuung angeordnet wird. Die derzeit knapp 20 Betreuungspaten kümmern sich weitgehend um die persönlichen Kontakte mit ihren Klienten und deren individuelle Bedürfnisse. Patricia Huß formuliert die Ziele dieser ehrenamtlichen Arbeit so: „Damit wir den Willen und das Wohl unserer Klienten optimal vertreten können, legen wir besonderen Wert auf eine gute Beziehungsebene. Dabei spielen unsere Patinnen und Paten eine ganz wichtige Rolle. Sie erfüllen die persönlichen Kontakte zu den betreuten Menschen mit Leben und bauen so einzigartige Bindungen auf.“
Diese hehren Ziele wurden durch die Corona-Pandemie jedoch jäh ins Abseits gestellt. Patricia Huß kommentiert die aktuelle Situation so: „Jeder Tag ist der Horror hier.“Die Kontakte laufen nur sehr eingeschränkt. Die so notwendigen Gespräche konnten nur per Telefon, durch das Fenster oder über den Balkon geführt werden. Die hauptamtliche Betreuerin Heike Brielmaier sagt dazu: „Für unsere
Klienten war es schlimm, dass sie ihre Wohnung nicht mehr verlassen durften. Es gab kein Einkaufen, keine Spaziergänge.“Wenn dann ein junger Mann immer wieder fragt, warum er seit Ende 2019 nicht mehr seine Eltern in Österreich sehen darf, geht das dem Paten zu Herzen. Antworten kann er keine geben.
Ein wichtiges Thema für die Arbeit der hauptamtlichen Mitarbeiterinnen war der Ablauf der angebotenen Impfungen. In vielen Fällen wurden die Angehörigen dazu befragt. Bei denen gab es durchaus unterschiedliche Ansichten. „Wir mussten viele Ängste und Bedenken in zahlreichen Gesprächen ausräumen.“Als gesetzliche Vertreter stimmten die Betreuer aber letztlich in allen anstehenden 170 Fällen einer Impfung zu. Vier der Betroffenen lehnten von sich aus eine Impfung ab, einer davon aus medizinischen Gründen.
Ganz andere Erfahrungen schildern Patricia Huß und Heike Brielmaier
mit manchen ihrer betreuten Menschen, die nicht im stationären Bereich leben, sondern in eigenen Unterkünften ihr Leben meistern. Deren Freizeitgestaltung sah gelegentlich so aus, dass sie mit dem Bus nach Ravensburg fuhren und sich dort trotz Verbots in größeren Gruppen trafen, aber keine Abstände einhielten und auch keine Masken trugen. Da flatterten dann schon einmal Bußgeldbescheide auf den Tisch der Betreuer, „ganz wie im richtigen Leben“. Die Geldstrafen mussten dann aus den Mitteln der Betroffenen von den Betreuern an die Staatskassen überwiesen werden. Einsprüche mit Hinweis auf die eingeschränkte Geschäftsfähigkeit der Betroffenen sind eher die Ausnahme. Heike Brielmaier positioniert sich mit Zustimmung ihrer Chefin eindeutig: „Wer in Freiheit leben will, der muss auch Verantwortung übernehmen. Wer ein selbstständiges Leben führen will, der hat Rechte, aber auch Pflichten.“