Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Sebastian Kneipp – Wasserdoktor, Wunderheiler, Weltstar
Kneipp und kaltes Wasser gehören zusammen wie Brezel und Butter. So die landläufige Meinung. Doch das ist nur die halbe Wahrheit, genau genommen sogar nur ein Fünftel. Was Sebastian Kneipp vor rund 150 Jahren als Gesundheitstherapie äußerst erfolgreich angewandt hat, besteht eben nicht nur aus Wassertreten, kalten Güssen und Wickeln und ist weder verstaubt noch veraltet. Der Pfarrer und Heilkundler wurde vor 200 Jahren geboren, seine Lehre aber ist topaktuell und beruht auf fünf Säulen: Wasser, Ernährung, Heilpflanzen, Bewegung und innere Ordnung. In Bad Wörishofen – Kneipps Wirkungsstätte – und im rund 30 Kilometer entfernten Ottobeuren – Kneipps Geburtsort – leben Menschen, die diese Lehre in die heutige Zeit holen.
„Im Wasser ist Heil.“
Brrrr! Es gehört schon etwas Überwindung dazu, das Gesicht in eiskaltes Wasser zu tauchen, dabei die Augen offen zu lassen, sie hin- und herzurollen sowie ab und zu mit den Lidern zu klimpern. „Zehn Sekunden reichen aus.“Mit diesen Worten erlöst Ines Wurm-Fenkl die Probandin. Doch nur für kurze Zeit. Mit den Händen wird das nasse Gesicht schnell abgewischt, um dann die Prozedur zu wiederholen. Drei- bis viermal. „Und, wie fühlen sich die Augen jetzt an?“, will Wurm-Fenkl anschließend wissen. „Tatsächlich erfrischt, klar und munter“, lautet die Antwort. WurmFenkl grinst wissend. Die Heilpraktikerin lehrt an der SebastianKneipp-Akademie in Bad Wörishofen. Zu ihren Schwerpunkten zählen die Hydro- und Bewegungstherapie. „Für Augen, die von der stundenlangen Bildschirmarbeit müde geworden sind, ist dies die ideale Erfrischung“, behauptet die Heilpraktikerin, die noch viel mehr dieser Kneipp’schen Muntermacher in petto hat. Beim Armbad sei es wichtig, die angewinkelten Arme bis über die Ellenbogengelenke ins kalte Wasser zu tauchen. Auch hier reichen erst mal zehn Sekunden aus, damit der sogenannte Kneipp’sche Espresso seine Wirkung entfalten kann. „Es soll anregen, nicht aufregen“fügt Wurm-Fenkl an. Deshalb werden Anwendungen wie diese am Vor- oder am frühen Nachmittag praktiziert. Im Gegensatz
zum abendlichen kalten Beinoder Schenkelguss oder dem Wassertreten. Diese Therapien fördern nämlich einen guten Schlaf.
Auf das „soll“und „angeblich“kann bei der Hydrotherapie, wie die Wasserkur nach Kneipp heutzutage genannt wird, verzichtet werden. Denn längst hat die moderne Wissenschaft bewiesen, dass sinnvoll gesetzte Kältereize den gesamten Körper in Schwung bringen, unter anderem Durchblutung und Gefäßerweiterung fördern, Muskeln entspannen, das vegetative Nervensystem positiv beeinflussen, Schmerzen lindern und antientzündlich wirken. Warmduscher verstehen jetzt auch, warum Leistungssportler nach getaner Arbeit so gerne in die Eistonne steigen ...
„Wenn du merkst, du hast gegessen, hast du schon zu viel gegessen.“
Diätassistenten werden dieses Zitat von Kneipp sofort unterschreiben. Auch Sebastian Seemüller pflichtet bei. Den Hotelmeister und Berufschullehrer aus Bad Wörishofen verbindet viel mehr mit dem berühmten Wasserdoktor als nur der Vorname. Kneipp favorisierte einfaches, aber frisches und selbst gekochtes Essen aus regionalen Zutaten. „Er wäre schockiert, würde er heute in einem Supermarkt die vielen Regale voller Fertigprodukte sehen“, mutmaßt Seemüller, der angehende Köche unterrichtet.
Baschti, wie Sebastian Kneipp als Kind genannt wurde, ist in Stephansried, einem Teilort von Ottobeuren, am 17. Mai 1821 zur Welt gekommen. Als Sohn armer Webersleut’. Mittellos, aber mit dem Wunsch, Priester zu werden, und einem Kaplan als Förderer ging er als junger Erwachsener nach Grönenbach, um Latein zu lernen, und später nach Dillingen aufs Gymnasium. Dort fanden auch seine beiden wichtigsten Lebensstränge zueinander. Er studierte Theologie und kurierte in der eiskalten Donau seine Tuberkulose. „So ging ich in der Woche dreimal im Winter in die Donau und habe Heilbäder genommen“, beschreibt Kneipp die rabiate Heilmethode, die später Grundlage seiner Wasserkur
„Was Kneipp schon vor 150 Jahren anmahnte, nennt man heute CleanEating.“Der Sohn einer WeberFamilie wusste aus eigener Erfahrung, dass das Arme-LeuteEssen hauptsächlich aus Kartoffeln, Kraut, Mehl und Milch bestand. Stellte aber auch fest, dass der Adel sich zu üppig ernährte und viel zu viel Fleisch und Fett zu sich nahm. Beide Bevölkerungsgruppen hatte er im Blick, als er zu Folgendem riet: pro Woche einen Nudeltag, zwei Salat-oder Gemüsetage, einen Mehlspeisentag, einen Fischtag, einen Fleischtag und einen sogenannten Belohnungstag. Hört sich nach Trennkost an. „Kneipp war sicher kein Kostverächter. Deshalb der Belohnungstag. Vermutlich ließ er sich sonntags drüben im ,Adler’ immer einen Schweinsbraten servieren. Für mich ist die Belohnung das Croissant am Samstagmorgen“erzählt Seemüller. In einem Punkt allerdings geht er nicht Kneipp-konform. Der Pfarrer hielt nichts davon, viel zu trinken, sondern sagte: „Wenn man keinen Durst hat, soll man nicht trinken.“Das sehen Ärzte und Ernährungswissenschaftler heute völlig anders. „Aber Kneipp hätte dazugelernt“, ist sich Seemüller sicher.
„Die Natur ist die beste Medizin.“
Der 163 000 Quadratmeter große Kurpark in Bad Wörishofen zählt zu den schönsten seiner Art in
werden sollte. Nach der Priesterweihe im Dom zu Augsburg feierte der genesene Kneipp seine Primiz in der Basilika in Ottobeuren, wo er auch getauft worden war.
Es folgten berufliche Stationen in Biberach und in
Boos bei Memmingen.
Doch der junge Geistliche wollte nicht nur die Seele, sondern auch den Körper heilen. Was nicht alle seiner Gemeindemitglieder gut fanden. Sie schimpften ihn „Kurpfuscher“, gar „Cholera-Kaplan“, weil er eine
Magd von dieser Krankheit geheilt hatte. Auch seine kirchlichen Vorgesetzten missbil- ligten die Nebentätigkeit des Prie- sters und versetzten ihn schließlich
Deutschland. Mittendrin sind mehrere Heilgärten sowie ein Duft- und Aromagarten angelegt. Karin Bendlin, die Gäste außerhalb von Pandemiezeiten durch den Park und die Gärten führt, kennt fast jedes Kraut und dazu eine Geschichte. „Die Brennnessel hat Kneipp als Frischpflanzensaft verabreicht. Arnika hilft bei nichtblutenden Verletzungen und ist heute als Salbe oder Globuli bekannt. Die Schafgarbe wirkt entzündungshemmend. Das Tausendgüldenkraut mit seinen Bitterstoffen hilft bei der Verdauung. Der Spitzwegerich nennt sich auch ,Pflaster der Natur’.“Stundenlang könnte sie referieren. Aber genauso gerne nimmt sie auf einer der Bänke Platz und genießt die coronabedingte Ruhe im Park. Rund 60 Pflanzen zählen zum Kneipp’schen Heilkräutergarten, die dieser regelmäßig vor allem als Tees, Tinkturen, Öle oder Frischpflanzensaft verordnete. Sein Wissen um die heilende Kraft der Kräuter vertraute Kneipp dem Würzburger Apotheker nach Wörishofen ins Allgäu als Beichtvater für die dort lebenden Dominikanerinnen. Was Kneipp allerdings nicht davon abhielt, weiter zu kurieren. Als Wasserdoktor und Wunderheiler wurde er noch populärer, als er Papst Leo XIII. behandelt hatte. Eigentlich sollte der Priester nach Rom reisen, um sich einen Rüffel abzuholen. Doch der Heilige Vater erbat sich selbst Rat von dem Pfarrer. Erzählt wird, dass Kneipp dem Papst regelmäßige Bewegung in den Vatikanischen Gärten empfohlen habe.
Dank Kneipp entwickelte sich das Kuhdorf Wörishofen zum beliebten und bekannten Kurort, in dem Prominenz
Leonhard Oberhäußer an, den er in Bad Wörishofen kennengelernt hatte. Er übertrug ihm 1891 das „Alleinrecht für alle Zeiten“pharmazeutische und kosmetische Produkte unter dem Namen Kneipp zu entwickeln, herzustellen und zu vertreiben. Nach langer Zeit in Familienhand übernahm Anfang der 2000er-Jahre die Hartmann-Gruppe die Geschäftsführung der Kneipp GmbH. Kneipps Kopf ist aus dem Logo herausgefallen, eine Adaption seiner Unterschrift ziert die Produkte aber heute noch.
„Der beste Weg zur Gesundheit ist der Fußweg.“
Kneipps Kurgäste waren oft von hohem Stand. Doch darauf nahm der Pfarrer wenig Rücksicht. Im Gegenteil. Weil seinen hochherrschaftlichen Patienten im Alltag die körperliche Arbeit fehlte, schickte er sie vorzugsweise zum Holzhacken. Selbst Erzherzog Joseph von Österreich, der meinte, ein wenig Flanieren sei genug Bewegung,
und Adel aus der ganzen Welt sich Wickel und Wassergüsse verabreichen ließen. Kneipp wurde zum Weltstar, indem er die Armen umsonst behandelte und die Reichen bezahlen ließ. Von den üppigen Honoraren und Tantiemen seiner Bücher „Meine Wasserkur“und „So sollt ihr leben“investierte er in den Ort, baute dort unter anderem das Sebastianeum, heute ein Kurhotel, das im Zentrum steht und von den Barmherzigen Brüdern aus München betrieben wird, und eine Kinderheilanstalt. Was den heilenden Pfarrer, der am 17. Juni 1897 an Krebs gestorben ist, wohl besonders gefreut hätte: 2015 ernannte die Unesco die Kneipp-Kur zum immateriellen Kulturerbe. (sim)
fand kein Pardon und musste zur Axt greifen. Entsprechende Camps für Manager finden übrigens heute wieder regen Zulauf. Grundsätzlich verordnete Kneipp „zügige Spaziergänge, ruhig eine Anhöhe hinauf“. Heilpraktikerin Ines Wurm-Fenkl fällt dazu sofort das heutige Nordic Walking ein. Sie weiß auch, dass Kneipp damals schon allen „Beamten, Büromenschen und Privatiers Haus- und Zimmergymnastik“empfahl, eventuell sogar mit Hanteln. „Heute geht man eben ins Fitnessstudio“, merkt sie an. Ein Indiz dafür, wie wichtig Kneipp jegliche Art von Bewegung war, findet sich mitten im Kurpark: Tennisplätze, die bereits vor 150 Jahren bespielt wurden.
„Erst, als ich daran ging, Ordnung in die Seelen der Patienten zu bringen, hatte ich vollen Erfolg.“
Die mächtige Basilika thront über Ottobeuren und ist schon von Weitem zu sehen. Hier also hat Kneipp seine Kindheit verbracht und seine Primiz gefeiert. Vor der Basilika ist Marianne Bartenschlager, Vorsitzende des örtlichen Kneipp-Vereins, startklar für den 13,6 Kilometer langen sogenannten Glücksweg, der von Ottobeuren in den Weiler Stephansried führt, wo einst Kneipps Geburtshaus stand. Der Pfad schlängelt sich über Wiesen entlang des Flüsschens Günz durch sanft hügelige Landschaft. Aufmerksame hören die Blätter im nahen Wald rascheln und das Plätschern des Baches, riechen Wiesenblumen und genießen die frische Brise, die durchs Tal weht. Eine Wohltat für stressgeplagte Städter. „Ich muss lächeln, wenn Menschen mir ganz begeistert vom neuen Trend ,Waldbaden’ erzählen. Kneipp wusste schon damals, wie wichtig es ist, mit sich selbst im Reinen zu sein, sich Auszeiten zu gönnen und die Natur mit allen Sinnen wahrzunehmen“, erzählt Bartenschläger. Personaltrainer sprechen heutzutage von Work-LifeBalance, und die Begriffe „Achtsamkeit“und „ganzheitlich“sind groß in Mode. Kneipp fasste all das damals unter dem bildhaften Begriff „innere Ordnung“zusammen.
Und überhaupt hat er schon zu Lebzeiten festgestellt: „Wer nicht jeden Tag ein bisschen Zeit für seine Gesundheit aufbringt, muss eines Tages sehr viel Zeit für seine Krankheit opfern.“