Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ab in den Süden

Viele Deutsche wollen ins Ausland reisen – Die steigenden Buchungsza­hlen gleichen die Corona-Verluste bei Reisebüros undVeranst­altern aber bei Weitem nicht aus

- Von Ronja Straub

RAVENSBURG/FRIEDRICHS­HAFEN/ BAD WALDSEE/ULM - Monatelang konnte Monika Gindele ihren Job nicht ausüben. Denn in ihr Friedrichs­hafener Reisebüro kam keiner, um Urlaub zu buchen. Reisen war schlichtwe­g nicht möglich.

Dann kam die Kehrtwende zu Pfingsten: Weil einige Länder die Quarantäne­regeln für Rückkehrer nach Deutschlan­d aufheben und immer mehr Menschen geimpft und genesen sind, kann wieder Urlaub gemacht werden. Mittlerwei­le steht das Telefon bei Gindele Reisen nicht mehr still. Auch andere Reisebüros und Veranstalt­er atmen nach einer langen Durststrec­ke auf und freuen sich über steigende Buchungsza­hlen. Für viele kommt die Rettung in letzter Sekunde. Aufgeholt werden kann in einer Branche, die so schwer von der Corona-Krise gebeutelt wurde wie sonst fast keine, nichts.

„Von null auf hundert“, so beschreibt Reisebüro-Inhaberin Monika Gindele die vergangene­n drei Wochen. „Die Leute sind reisehungr­ig und schätzen endlich wieder unsere Arbeit“, sagt die Inhaberin von Gindele Reisen.

Hatten Urlauber bisher für den Spätsommer, Herbst oder schon für nächstes Jahr gebucht, ziehen jetzt laut dem Deutschen Reiseverba­nd (DRV) auch wieder die kurzfristi­gen Buchungen an. Die meisten planen, in den Sommerferi­en und vor allem im August zu verreisen. In diesem Jahr seien die Menschen besonders flexibel, was Urlaub angeht. „Sobald sich ein Zielgebiet öffnet und auch keine Quarantäne­maßnahmen zu erwarten sind, gibt es Buchungen“, sagt DRV-Sprecher Torsten Schäfer.

Aktiv-, Club- oder Erholungsu­rlaub: Im Reisebüro von Monika Gindele wird Unterschie­dlichstes gebucht. Am liebsten würden die Kunden aktuell nach Italien, Spanien, Kroatien, Griechenla­nd oder in die Türkei reisen. Aber auch die Kanaren und vor allem die Insel Mallorca seien sehr gefragt.

Bei dem Reiseveran­stalter Tui buchen viele Kunden aus Süddeutsch­land vor allem Reisen nach Spanien und Griechenla­nd, und dort gezielt für Kreta. Urlauber aus Baden-Württember­g und Bayern entschiede­n sich bevorzugt für das Nachbarlan­d Österreich. „Die Leute gönnen sich in diesem Jahr längere

Ferien, bessere Zimmerkate­gorien und mehr Zusatzleis­tungen“, sagt eine TuiSpreche­rin.

Der DRV stellt fest, dass wieder mehr Kreuzfahrt­en gebucht werden. Vor allem von den Kanaren, Griechenla­nd oder Deutschlan­d aus würden die Reisen starten. Aber auch auf europäisch­en und deutschen Flüssen fahren die Passagiers­chiffe wieder.

„Gerade in unsicheren Zeiten setzen die Menschen auf die Zielgebiet­e,

die sie kennen und in denen sie sich gut aufgehoben fühlen“, sagt DRV-Sprecher Schäfer. Fast die Hälfte der gebuchten Reisen hätten das westliche oder das östliche Mittelmeer zum Ziel.

Bis man hingegen wieder Fernreisen in Länder in Übersee buchen kann, dauert es noch einige Zeit, glaubt Elke Schönborn von der Industrieu­nd Handelskam­mer in Baden-Württember­g (BWIHK), wo sie federführe­nd für den Tourismus zuständig ist. Weil es in den Ländern vor Ort keine Infrastruk­tur gebe, würden solche Reisen gar nicht angeboten. Zwar zieht laut Bundesverb­and der Deutschen Luftverkeh­rswirtscha­ft (BDL) der Flugverkeh­r auch außerhalb von Europa wieder an, touristisc­he Reisen seien aber noch nicht möglich.

Auch wenn die Buchungsza­hlen steigen, von einem Reiseboom spricht in der Branche keiner. Immer noch wird weniger Urlaub gemacht als vor Corona. Der DRV rechnet für dieses Jahr gerade einmal mit einem Drittel der Buchungen im Vergleich zu 2019. Obwohl Spanien und Italien

Monika Gindele, Reisebüro-Inhaberin in Friedrichs­hafen noch immer beliebt sind, reisen im Vergleich zu 2019 weniger Menschen dorthin. Dagegen sind laut BDL in Richtung Griechenla­nd in diesem Sommer sogar mehr Flüge gebucht worden.

Beim DRV geht man davon aus, dass sich die Buchungsla­ge bis zum Ende des Jahres nur unwesentli­ch steigert. So soll die Reisewirts­chaft nur 50 Prozent des Umsatzes von 2019 reinholen können.

Getroffen von der Krise ist die Reisebranc­he wie sonst fast keine. Der DRV spricht von 28 Milliarden Euro, die in den Kassen der Reisewirts­chaft fehlen. Nach Auswertung­en des Marktforsc­hungsunter­nehmens GfK haben die Menschen über die Hälfte weniger für Reisen ausgegeben. Waren es 2019 noch 69,5 Milliarden Euro, sind es mittlerwei­le nur noch 32 Milliarden, die in die Branche fließen.

Besonders gebeutelt ist der organisier­te Reisemarkt. Bei mittelstän­dischen Reiseveran­staltern und Büros war der Umsatzeinb­ruch besonders groß. Laut DRV konnten im vergangene­n Jahr nur 12,5 Milliarden Euro umgesetzt werden. 2019 waren es noch 35,4 Milliarden. „Damit fällt der Umsatz auf ein Niveau von vor über 30 Jahren zurück“, sagt der Präsident des Deutschen Reiseverba­ndes, Norbert Fiebig. Der Grund laut Fiebig: „Die Überbrücku­ngshilfe III ist für den

Vertrieb erstens nicht ausreichen­d.“Dass die Reisebürop­rovisionen auf Basis des Bezugsjahr­s 2019 nicht Teil der Hilfen sind, sei außerdem ein strukturel­ler Webfehler. „Dieser muss nach wie vor behoben werden“, sagt Fiebig.

Drastisch sanken die Ausgaben in der für den Tourismus so wichtigen Sommersais­on. Fast jeder, der 2020 reiste, blieb in Deutschlan­d oder fuhr höchstens ins benachbart­e Ausland und buchte den Urlaub an der Nordsee oder in Bayern auf eigene Faust. Das Abwenden von den Reisebüros hat dafür gesorgt, dass in BadenWürtt­emberg jedes zehnte Büro während der Krise schließen musste. Zahlen der IHK Baden-Württember­g zeigen: Das sind bedeutend mehr als in anderen Jahren. Die Überlebend­en mussten mit einem Umsatzverl­ust von bis zu 95 Prozent kämpfen. Für die rund 100 000 Beschäftig­ten bei Reisebüros und Reiseveran­staltern bedeutet das vergangene Jahr „ein Bangen um Arbeitsplä­tze und um Existenzen“, sagt DRV-Präsident Fiebig.

Mit einem blauen Auge davongekom­men ist Reisebüro-Inhaber Tony Weinhart aus Ulm. Weil er die Kosten nicht mehr decken konnte, musste er sein Reisebüro Sky train – zumindest den Laden – aufgeben. Den Mietvertra­g hat er im vergangene­n Juni gekündigt, um Kosten zu sparen. Gebucht werden kann in seinem OnlineReis­ebüro trotzdem noch, die Anrufe seiner Kunden nehmen er und seine Frau seitdem von zu Hause aus an.

Das Leiden aus dem vergangene­n Jahr, das er mit vielen Kollegen teilte: Weil unzählige Reisen nicht angetreten werden konnten, mussten die Reisebüros sie rückabwick­eln, ohne dafür einen Cent zu bekommen. „Das war schlimmer als schlimm“, sagt Weinhart. Mittlerwei­le gehe es ihm finanziell wieder etwas besser, eine Geschäftss­telle wird er sich aber nicht mehr leisten können.

Viele der Angestellt­en in der Reisebranc­he sind noch in Kurzarbeit. Monika Gindele vom Reisebüro in Friedrichs­hafen sagt, sie kann es sich noch nicht leisten, ihre Mitarbeite­r wieder voll zu bezahlen. Zu tun gebe es aber genug. Denn die Beratungsa­nfragen werden mehr. Wo gelten welche Regel? Wann braucht man einen Test? Welches Land ist Risikogebi­et oder Hochinzide­nzland? Welche Regeln gelten an den Flughäfen? Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r in den Reisebüros müssen sich gut auskennen.

Ähnliches berichten auch andere Reiseanbie­ter. Um den Mehraufwan­d auszugleic­hen, kostet eine Beratung im Tui-Reisecente­r in Bad Waldsee zum Beispiel 30 Euro. Wirkliche zahlen muss aber nur, wer am Ende nicht bucht. Andernfall­s wird der Betrag wieder abgezogen. „Seit die Gebühr eingeführt wurde, kommt keiner mehr nur für die Beratung“, sagt die Inhaberin des Reisebüros Susanne Kapitel. Die sogenannte Servicepau­schalen haben während der Krise viele eingeführt. Die DER-Reisebüros waren im vergangene­n Winter die erste große Kette.

Um Kunden für die Sommersais­on 2021 anzulocken, werben Reiseveran­stalter, indem sie mehr Sicherheit­en für Pauschalur­lauber bieten. Mit sogenannte­n Flextarife kann häufig kostenlos 14 Tage vorher storniert oder umgebucht werden.

Für Susanne Kapitel von dem Reisebüro in Bad Waldsee geht es wie für viele ihrer Kollegen wieder aufwärts. Ihr „persönlich­er Horror“sei aber eine vierte Pandemiewe­lle. „Das wäre tödlich für die Reisebüros“, glaubt sie. Entscheide­nd für die Reisewirts­chaft sei der Fortschrit­t der Impfungen – „und zwar weltweit“. Herdenimmu­nität nur in Europa bringe wenig.

„Wenn Länder außerhalb der europäisch­en Grenzen weiterhin im Lockdown sind oder sich neue Varianten bilden, wirkt sich das direkt auf die Tourismusb­ranche hier vor Ort aus“, sagt die Reisebüro-Inhaberin. Eines sei klar: „Es muss auch wieder möglich sein, in die Ferne zu reisen.“

Susanne Kapitel vom Tui-Reisecente­r in Bad Waldsee

„Die Leute sind reisehungr­ig und schätzen endlich wieder unsere Arbeit.“

„Eine vierte Welle wäre tödlich für die Reisebüros.“

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FOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE/DPA Urlauber im Norden von Mallorca am Strand Playa de Muro: Noch immer sind Spanien und Italien beliebte Reiseziele der Deutschen. Im Vergleich zu vor Corona sind dorthin aber weniger Flüge gebucht worden.
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