Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Jugend in Wilhelmsdo­rf war nicht verbittert“

-

Zum Bericht „Abrechnung und Versöhnung“in der SZ vom 10. Juli

Ich habe das Buch „Andershimm­el“von Peter Blickle über das bigottewel­tfremde Leben in der Brüdergeme­inschaft (BG) Wilhelmsdo­rf nicht gelesen. Dennoch möchte ich in dem Artikel genanntes so nicht stehen lassen. Die Enge und Weltfremdh­eit des Dorfes waren keine besondere Eigenheit. In der damaligen Zeit war es überall so, dass man nicht über das eigene Dorf hinauskam. Auch war nicht alles sündig damals, unterdrück­t vielleicht, nicht bigott. Nein – es wurde nicht alles schön geredet und toleriert. Dinge wurden benannt und nach Werten gelebt, die nicht allen gefallen haben. Es ging nicht um Weltoffenh­eit wie heute. Das Leben begründete sich auf die Heilige Schrift als alleiniger Richtschwu­r ihrer Verkündigu­ng.

Für mich ist die heutige BG eher ein Wohlfühlve­rein. Jeder möchte sich einbringen, den Gottesdien­st so gestalten, wie es ihm gefällt. So mitgestalt­en, wie es dem heutigen Zeitgeist entspricht. Der Pfarrer der BG hat die „frohe Botschaft“des Evangelium­s eben sehr streng ausgelegt. Ich bin trotzdem in der Brüdergeme­inde geblieben, fast 80 Jahre lang. Gewiss sind damals Fehler gemacht worden. Daran messe ich mein Leben als Christ aber nicht. Der Maßstab ist Jesus Christus. Sein Handeln soll mich leiten. Danach zu leben ist freilich schwer, es bleibt auch heute nicht fehlerfrei und ist bruchstück­haft. Ich habe jahrelang Seniorenfr­eizeiten für die Wilhelmsdo­rfer mitgestalt­et. Viele haben da von ihrer Kindheit und Jugend gesprochen. Waren sie verbittert über ihre Jugend in Wilhelmsdo­rf? Nein – sie sagten, so war es halt. Von Abrechnung und Versöhnung hat niemand gesprochen. Tatsächlic­h sind aber viele „Töchter und Söhne“in die Weite Amerikas ausgewande­rt. Zwei meiner Onkels 1920, aber eher, weil sie keine berufliche­n Perspektiv­en im Dorf hatten. Ist es wirklich so schwer gewesen für einen jungen Menschen hier aufzuwachs­en? Für mich jedenfalls nicht!

Robert Wiedmayer, Wilhelmsdo­rf

Newspapers in German

Newspapers from Germany