Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Mobbing aus dem Netz
Jeder zweite Teenager hat bereits Erfahrungen mit Beleidigungen und Hass im Internet gemacht
RAVENSBURG - Was mit Beleidigungen im Netz angefangen hat, gipfelte in einem Polizeieinsatz an seiner Schule: Erlebt hat das ein Teenager aus Baden-Württemberg. Im vergangenen Jahr ist er Opfer von Cybermobbing geworden.
Mehr als die Hälfte der Jugendlichen in Deutschland hat laut der aktuellen Sinus-Jugendstudie bereits Erfahrungen mit dem Thema gemacht. Beratungsstellen registrieren mehr Anfragen von Betroffenen, doch nur ein Teil der
Fälle wird überhaupt bekannt. Die Dunkelziffer bei Cybermobbing ist laut Experten groß.
Mit Beleidigungen im Internet beginnt für einen Schüler einer Realschule im Südwesten ein dreimonatiger Alptraum. „Erst habe ich geglaubt, dass es ein schlechter Spaß ist, aber es wurde immer heftiger, ich bekam sogar Morddrohungen“, sagt Michael Z. (Name
Über Facebook bekommt er von falschen Profilen die Nachrichten geschickt, in denen er massiv angefeindet wird. Er habe daraufhin sein Konto bei dem sozialen Netzwerk gelöscht – doch die Angriffe hören nicht auf: „Es fing dann auch noch in der Schule an, über unser Schülernetzwerk bekam ich Fotos, auf denen ich als Terrorist dargestellt wurde.“
Schließlich wird Michael auch im Klassenzimmer gemobbt: Er bekommt Fotos, auf denen er wegen seines dunklen Teints rassistisch beleidigt wird. Er versteht die Welt nicht mehr, hatte er sich bislang mit seinen Mitschülern immer gut verstanden. „Ich habe mir gesagt, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hat“, erzählt der 20Jährige. Michael nimmt seinen ganzen Mut zusammen, vertraut sich seinen Eltern und seiner Lehrerin an, doch die Ereignisse überschlagen sich in dieser Woche. Michaels Tablet wird gehackt und in seinem Namen eine Hass-Nachricht an die Schule verschickt. „Darin stand, dass ich ein Attentat planen würde, was einen Polizeieinsatz auslöste. Doch ich konnte nachweisen, dass ich das nicht geschrieben habe“, sagt er.
Die Polizei klärt den Fall wenig später auf. Der Mobbing-Täter ist einer von Michaels Mitschülern, weitere Klassenkameraden werden als Mitläufer eingestuft. „Das hat mich geprägt, seitdem bin ich sehr vorsichtig geworden, was ich im Netz poste“, sagt Michael. Im Nachgang wird Cybermobbing an seiner Schule ausführlich thematisiert, dass es dafür erst einen Fall brauchte, enttäuscht den jungen Mann. „Ich glaube, das große Problem ist, dass viele Lehrer nicht genau wissen, wie sie das Thema ansprechen sollen“, sagt er. Aus seiner Sicht müsste mehr Zeit im Unterrichtsalltag für den Umgang mit Cybermobbing eingeräumt werden.
Mehr als jeder zweite Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren hat laut einer aktuellen Sinus-Jugendstudie bereits Erfahrungen mit Cybermobbing gemacht, sei es als Opfer, Zuschauer oder Täter. Von den rund 2000 Befragten gaben in der von der Barmer-Krankenkasse in Auftrag gegebenen Studie 14 Prozent an, dass sie im Internet gemobbt wurden. Fünf Prozent gestanden, selbst Täter gewesen zu sein. Am häufigsten gaben Teenager mit 43 Prozent an, dass sie bei anderen Mobbing-Attacken beobachtet haben. Cybermobbing gibt es laut der Studie auf allen Social-MediaKanälen. Besonders häufig auf Whats-App, Instagram und Tik-Tok.
„Cybermobbing ist im Leben der Jugendlichen nach wie vor inakzeptabel weit verbreitet. Die Prävention muss intensiviert werden. Betroffene brauchen leichten Zugang zu Hilfe und vor allem Anlaufstellen, denen sie vertrauen können. Denn allein sind Mobbing-Attacken nur schwer zu bestehen“, sagt Winfried Plötze, Landesgeschäftsführer der Barmer Landesvertretung in Baden-Württemberg. Erste Ansprechpersonen sind für Betroffene laut der Studie Eltern (67 Prozent) und Freunde (44 Prozent) – obwohl es viele niederschwellige Hilfsangebote gibt.
Cybermobbing kann mehrere Formen annehmen. Allen ist zumindest gemeinsam, dass sich das Phänomen durch ein „systematisches aggressives Handeln gegen eine Person über einen längeren Zeitraum, bei dem digitale Kommunikationsmittel benutzt werden“, charakterisieren lässt, erklärt Kathrin Müller vom Landesmedienzentrum Baden-Württemberg. Die Einrichtung des Landes leistet Aufklärungsarbeit an Schulen zu Cybermobbing. Das können zum Beispiel Fälle sein, in denen diffamierende oder intime Fotos über das Internet verbreitet werden. Häufig geht es auch um beleidigende Kommentare und Nachrichten in den sozialen Netzwerken. Dabei kann es auch sein, dass sich ein Täter unter der Identität des Opfers bei Kommunikationsplattformen anmeldet und in dessen Namen Unwahrheiten verbreitet.
„Wir sensibilisieren die Schüler dafür, wie viel sie im Internet von sich preisgeben, aber auch wie sie reagieren sollten, wenn sie mitbekommen, dass jemand gemobbt wird“, sagt Müller. Dazu gehöre auch die Ausbildung von Schülermedienmentoren, diese sollen die Aufklärung an Schulen weiter vorantreiben. „Dadurch, dass die Medien rund um die Uhr Begleiter sind, übertragen sich Konflikte häufiger in den digitalen Raum“, sagt Müller. Die moderne Technik habe für Mobbing neue Möglichkeiten
eröffnet, weil den Betroffenen selbst ihr Zuhause keinen sicheren Raum mehr biete. Laut der Medienexpertin kann der Täter ein größeres Publikum erreichen.
Häufig hoffen Opfer von Mobbing, dass die Attacken von allein wieder aufhören. „Der erste Reflex bei Betroffenen ist, dass sie die Schotten dichtmachen und abtauchen wollen“, sagt Andreas Mattenschlager, Leiter der psychologischen Familienund Lebensberatung der Caritas Ulm-Alb-Donau. Über das Erfahrene zu sprechen, sei aufgrund der empfundenen Scham schwierig, weil durch die Reichweite im Internet viele Menschen von den Erniedrigungen mitbekommen. In einem Fall suchte eine junge Frau bei ihm Hilfe, deren Ex-Freund intime Fotos von ihr im Internet verbreitete: „Das ist unglaublich hart, weil sich die Fotos nicht mehr einfangen lassen.“
Ohne das Einschreiten von Vertrauten, seien es Eltern, Lehrer, Schulpsychologen, Beratungsstellen oder Polizei, stehen die Chancen für Betroffene schlecht, dass der Mobbing-Täter wieder von ihnen ablässt. „Dem Täter geht es darum, sein Selbstwertgefühl zu steigern, indem er sein Opfer erniedrigt. Dafür braucht er Zuschauer“, erklärt Hendrik Heisch von der Schulpsychologischen Beratungsstelle in Ravensburg. Blieben MobbingAttacken ohne Widerspruch oder schließen sich andere dem Mobbing
an, fühle sich der Täter bestätigt. In der Sensibilisierungs- und Präventionsarbeit sieht der Psychologe eine Chance für die schnellere Aufklärung von Cybermobbing: „Die graue Masse, die Zeuge von Mobbing wird, darf das nicht länger hinnehmen, sondern muss diese Fälle melden.“
Durch die sozialen Medien habe Mobbing eine neue Dimension erreicht: Denn oft ist nicht ersichtlich, wo die Angriffe im Cyberspace ihren Ausgangspunkt genommen haben. Ursprung könnte zum Beispiel ein Streit unter Jugendlichen in der Chatgruppe eines Vereins sein, der sich später im schulischen Kontext fortsetzt. Für die Lehrkräfte wird das Mobbing erst wahrnehmbar, wenn es im Klassenzimmer ankommt. „Die Lehrer sind oftmals mit der Situation überfordert“, sagt Heisch. Durch das Home-Schooling spielten sich noch mehr Prozesse im Netz ab, was dort passiert, gehe an Lehrkräften und Eltern häufig vorbei. Viele Fälle bleiben laut dem Psychologen unentdeckt, die Dunkelziffer bei Cybermobbing sei deutlich größer: „Wir haben weiter Mobbingfälle auf hohem Niveau. Doch wir bekommen primär den Teil von Cybermobbing mit, der in der realen Welt mündet.“
Im Distanzunterricht sei es außerdem für Lehrkräfte fast unmöglich, Verhaltensveränderungen der Schüler wahrzunehmen, erklärt Fabian Herr. Er ist Referent beim Bündnis gegen Cybermobbing,
Hendrik Heisch , Schulpsychologische
Beratungsstelle einem gemeinnützigen Verein aus Karlsruhe, der Betroffenen mit Beratung hilft und Aufklärung an Schulen leistet. In der gemeinsam mit der Techniker Krankenkasse erhobenen Studie Cyberlife III, heißt es, Cybermobbing „habe sich zu einem dauerhaft virulenten Problemfeld in Schulen und privatem Umfeld der Jugendlichen entwickelt“.
Für die Autoren der Studie ist eine zentrale Erkenntnis, dass Eltern mit dem Thema überfordert, Lehrer zu wenig darauf vorbereitet und die Schulen zu zögerlich in der Reaktion sind. Es handele sich um ein wachsendes Problem. „Unsere Studie hat in anonymen Befragungen aufgezeigt, dass es im Kinderund Jugendbereich einen deutlichen Anstieg der Fälle seit Beginn der Corona-Pandemie gibt“, sagt Herr.
Die Beratungen zu Cybermobbing über das Kinder- und Jugendtelefon der „Nummer gegen Kummer“, eines der ältesten offenen Gesprächs- und Beratungsangebote in Deutschland, sind im Jahr 2020 um drei Prozent zum Vorjahr gestiegen. „Ganz grundsätzlich ist Cybermobbing im Bereich der Beratung zu Onlinesorgen seit vielen Jahren eines der häufigsten Themen von Ratsuchenden“, sagt Anna Zacharias, Fachreferentin bei der Nummer gegen Kummer. Die Daten der Helplines im europäischen Netzwerk Insafe zeigten Cybermobbing seit über zehn Jahren unverändert als den wichtigsten Grund, sich an ein Beratungsangebot zu wenden, erklärt Zacharias. Das Netzwerk hat das Ziel, das Bewusstsein für eine sichere und verantwortungsvolle Nutzung des Internets unter Jugendlichen zu fördern. Für jugendliche Betroffene von Cybermobbing gibt es inzwischen eine Vielzahl an Hilfsangeboten – telefonisch, per Chat und als Cybermobbing-Erste-Hilfe-App.
„Im geschützten Rahmen unserer vertraulich und anonym erreichbaren Beratungsangebote trauen sich Betroffene häufig zum ersten Mal überhaupt, über ihre Probleme zu sprechen“, sagt Zacharias. Die Erfahrungen zeigten auch, dass „klassisches“Mobbing und Cybermobbing oft nicht klar voneinander zu trennen seien: „Betroffene werden sowohl in der Schule als auch im Internet gemobbt. Das macht es für sie natürlich besonders schwer, weil sie quasi rund um die Uhr mit dem Mobbing konfrontiert werden.“
Wenn Betroffene sich überwinden können, Hilfe zu suchen, könne ihnen geholfen werden, verspricht Günther Bubenitschek, Landespräventionsbeauftragter beim Weißen Ring in Baden-Württemberg. Der Verein unterstützt Kriminalitätsopfer und Präventionsprojekte zur Verhinderung von Straftaten. Eine Anzeige sei für die Beratung durch den Weißen Ring nicht erforderlich, könne in Fällen, in denen Betroffene zum Beispiel mit psychischen Folgen zu kämpfen haben, aber ratsam sein, sagt Bubenitschek. „Mobbing findet häufig im schulischen oder privaten Umfeld statt, oftmals lassen sich Mobbingfälle auch ohne juristische Mittel aus der Welt schaffen.“
In Einzelfällen, die einen Straftatbestand darstellen, werden Betroffene über ihre rechtlichen Möglichkeiten aufgeklärt, wie sie sich wehren können. „Bei Cybermobbing liegen meist Straftaten vor, auch wenn es keinen eigenen Straftatbestand darstellt“, sagt der Präventionsbeauftragte. Straftaten werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst, teilt eine Sprecherin des Innenministeriums mit. Mögliche Straftatbestände im Zusammenhang mit Cybermobbing sind unter anderem Beleidigungsdelikte, Bedrohungen oder Nötigungen. Eine Zunahme gibt es hier laut Ministerium bei Tatverdächtigen unter 21 Jahren in den genannten Deliktsbereichen aber nicht.
Anders als in Deutschland gibt es in Österreich seit 2016 ein Cybermobbing-Gesetz: Wer sich wegen Mobbens strafbar macht, muss im Nachbarland mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe bis zu 720 Tagessätzen rechnen. Ist die Gesetzeslage in Deutschland nicht ausreichend? Diese Frage bewerten Experten sehr unterschiedlich.
Beim Bündnis gegen Cybermobbing sei man noch unentschlossen, sagt Referent Herr. Ein großer Vorteil sei sicher, dass sich das Phänomen in Statistiken dadurch deutlich leichter erkennen ließe. „Doch es gibt Befürchtungen, dass das Strafmaß für Täter milder ausfallen könnte, weil sich mehrere Straftaten nicht mehr wie bisher zu einer Gesamtstrafe aufsummieren würden“, sagt er.
Das Innenministerium verweist darauf, dass die geltenden Regeln eine geeignete Grundlage für die Polizei darstellen, gegen die Täter vorzugehen. Aufklärung könne helfen, Straftaten im Zusammenhang mit Cybermobbing zu verhindern und aufzudecken, sagt Josef Hiller, Außenstellenleiter des Weißen Rings im Landkreis Ravensburg. In der Vergangenheit hätte bereits bei anderen Straftaten, wie sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung, durch Sensibilisierung der Bevölkerung erreicht werden können, dass mehr Gewaltopfer entsprechende Taten zur Anzeige bringen. „Wir müssen das Selbstbewusstsein der jungen Leute stärken, damit sie Mobbing nicht länger hinnehmen“, sagt Hiller. Ein Cybermobbing-Gesetz könne dabei helfen, das schwer zu fassende Phänomen rechtlich zu normieren: „Dadurch könnte, ähnlich wie nach der Reform des Stalking-Tatbestands, besser gegen die Täter vorgegangen werden.“
„Dem Täter
geht es darum, sein Selbstwertgefühl zu steigern,
indem er sein Opfer erniedrigt.“