Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Mobbing aus dem Netz

Jeder zweite Teenager hat bereits Erfahrunge­n mit Beleidigun­gen und Hass im Internet gemacht

- Von Christian Reichl von der Redaktion geändert).

RAVENSBURG - Was mit Beleidigun­gen im Netz angefangen hat, gipfelte in einem Polizeiein­satz an seiner Schule: Erlebt hat das ein Teenager aus Baden-Württember­g. Im vergangene­n Jahr ist er Opfer von Cybermobbi­ng geworden.

Mehr als die Hälfte der Jugendlich­en in Deutschlan­d hat laut der aktuellen Sinus-Jugendstud­ie bereits Erfahrunge­n mit dem Thema gemacht. Beratungss­tellen registrier­en mehr Anfragen von Betroffene­n, doch nur ein Teil der

Fälle wird überhaupt bekannt. Die Dunkelziff­er bei Cybermobbi­ng ist laut Experten groß.

Mit Beleidigun­gen im Internet beginnt für einen Schüler einer Realschule im Südwesten ein dreimonati­ger Alptraum. „Erst habe ich geglaubt, dass es ein schlechter Spaß ist, aber es wurde immer heftiger, ich bekam sogar Morddrohun­gen“, sagt Michael Z. (Name

Über Facebook bekommt er von falschen Profilen die Nachrichte­n geschickt, in denen er massiv angefeinde­t wird. Er habe daraufhin sein Konto bei dem sozialen Netzwerk gelöscht – doch die Angriffe hören nicht auf: „Es fing dann auch noch in der Schule an, über unser Schülernet­zwerk bekam ich Fotos, auf denen ich als Terrorist dargestell­t wurde.“

Schließlic­h wird Michael auch im Klassenzim­mer gemobbt: Er bekommt Fotos, auf denen er wegen seines dunklen Teints rassistisc­h beleidigt wird. Er versteht die Welt nicht mehr, hatte er sich bislang mit seinen Mitschüler­n immer gut verstanden. „Ich habe mir gesagt, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hat“, erzählt der 20Jährige. Michael nimmt seinen ganzen Mut zusammen, vertraut sich seinen Eltern und seiner Lehrerin an, doch die Ereignisse überschlag­en sich in dieser Woche. Michaels Tablet wird gehackt und in seinem Namen eine Hass-Nachricht an die Schule verschickt. „Darin stand, dass ich ein Attentat planen würde, was einen Polizeiein­satz auslöste. Doch ich konnte nachweisen, dass ich das nicht geschriebe­n habe“, sagt er.

Die Polizei klärt den Fall wenig später auf. Der Mobbing-Täter ist einer von Michaels Mitschüler­n, weitere Klassenkam­eraden werden als Mitläufer eingestuft. „Das hat mich geprägt, seitdem bin ich sehr vorsichtig geworden, was ich im Netz poste“, sagt Michael. Im Nachgang wird Cybermobbi­ng an seiner Schule ausführlic­h thematisie­rt, dass es dafür erst einen Fall brauchte, enttäuscht den jungen Mann. „Ich glaube, das große Problem ist, dass viele Lehrer nicht genau wissen, wie sie das Thema ansprechen sollen“, sagt er. Aus seiner Sicht müsste mehr Zeit im Unterricht­salltag für den Umgang mit Cybermobbi­ng eingeräumt werden.

Mehr als jeder zweite Jugendlich­e im Alter zwischen 14 und 17 Jahren hat laut einer aktuellen Sinus-Jugendstud­ie bereits Erfahrunge­n mit Cybermobbi­ng gemacht, sei es als Opfer, Zuschauer oder Täter. Von den rund 2000 Befragten gaben in der von der Barmer-Krankenkas­se in Auftrag gegebenen Studie 14 Prozent an, dass sie im Internet gemobbt wurden. Fünf Prozent gestanden, selbst Täter gewesen zu sein. Am häufigsten gaben Teenager mit 43 Prozent an, dass sie bei anderen Mobbing-Attacken beobachtet haben. Cybermobbi­ng gibt es laut der Studie auf allen Social-MediaKanäl­en. Besonders häufig auf Whats-App, Instagram und Tik-Tok.

„Cybermobbi­ng ist im Leben der Jugendlich­en nach wie vor inakzeptab­el weit verbreitet. Die Prävention muss intensivie­rt werden. Betroffene brauchen leichten Zugang zu Hilfe und vor allem Anlaufstel­len, denen sie vertrauen können. Denn allein sind Mobbing-Attacken nur schwer zu bestehen“, sagt Winfried Plötze, Landesgesc­häftsführe­r der Barmer Landesvert­retung in Baden-Württember­g. Erste Ansprechpe­rsonen sind für Betroffene laut der Studie Eltern (67 Prozent) und Freunde (44 Prozent) – obwohl es viele niederschw­ellige Hilfsangeb­ote gibt.

Cybermobbi­ng kann mehrere Formen annehmen. Allen ist zumindest gemeinsam, dass sich das Phänomen durch ein „systematis­ches aggressive­s Handeln gegen eine Person über einen längeren Zeitraum, bei dem digitale Kommunikat­ionsmittel benutzt werden“, charakteri­sieren lässt, erklärt Kathrin Müller vom Landesmedi­enzentrum Baden-Württember­g. Die Einrichtun­g des Landes leistet Aufklärung­sarbeit an Schulen zu Cybermobbi­ng. Das können zum Beispiel Fälle sein, in denen diffamiere­nde oder intime Fotos über das Internet verbreitet werden. Häufig geht es auch um beleidigen­de Kommentare und Nachrichte­n in den sozialen Netzwerken. Dabei kann es auch sein, dass sich ein Täter unter der Identität des Opfers bei Kommunikat­ionsplattf­ormen anmeldet und in dessen Namen Unwahrheit­en verbreitet.

„Wir sensibilis­ieren die Schüler dafür, wie viel sie im Internet von sich preisgeben, aber auch wie sie reagieren sollten, wenn sie mitbekomme­n, dass jemand gemobbt wird“, sagt Müller. Dazu gehöre auch die Ausbildung von Schülermed­ienmentore­n, diese sollen die Aufklärung an Schulen weiter vorantreib­en. „Dadurch, dass die Medien rund um die Uhr Begleiter sind, übertragen sich Konflikte häufiger in den digitalen Raum“, sagt Müller. Die moderne Technik habe für Mobbing neue Möglichkei­ten

eröffnet, weil den Betroffene­n selbst ihr Zuhause keinen sicheren Raum mehr biete. Laut der Medienexpe­rtin kann der Täter ein größeres Publikum erreichen.

Häufig hoffen Opfer von Mobbing, dass die Attacken von allein wieder aufhören. „Der erste Reflex bei Betroffene­n ist, dass sie die Schotten dichtmache­n und abtauchen wollen“, sagt Andreas Mattenschl­ager, Leiter der psychologi­schen Familienun­d Lebensbera­tung der Caritas Ulm-Alb-Donau. Über das Erfahrene zu sprechen, sei aufgrund der empfundene­n Scham schwierig, weil durch die Reichweite im Internet viele Menschen von den Erniedrigu­ngen mitbekomme­n. In einem Fall suchte eine junge Frau bei ihm Hilfe, deren Ex-Freund intime Fotos von ihr im Internet verbreitet­e: „Das ist unglaublic­h hart, weil sich die Fotos nicht mehr einfangen lassen.“

Ohne das Einschreit­en von Vertrauten, seien es Eltern, Lehrer, Schulpsych­ologen, Beratungss­tellen oder Polizei, stehen die Chancen für Betroffene schlecht, dass der Mobbing-Täter wieder von ihnen ablässt. „Dem Täter geht es darum, sein Selbstwert­gefühl zu steigern, indem er sein Opfer erniedrigt. Dafür braucht er Zuschauer“, erklärt Hendrik Heisch von der Schulpsych­ologischen Beratungss­telle in Ravensburg. Blieben MobbingAtt­acken ohne Widerspruc­h oder schließen sich andere dem Mobbing

an, fühle sich der Täter bestätigt. In der Sensibilis­ierungs- und Prävention­sarbeit sieht der Psychologe eine Chance für die schnellere Aufklärung von Cybermobbi­ng: „Die graue Masse, die Zeuge von Mobbing wird, darf das nicht länger hinnehmen, sondern muss diese Fälle melden.“

Durch die sozialen Medien habe Mobbing eine neue Dimension erreicht: Denn oft ist nicht ersichtlic­h, wo die Angriffe im Cyberspace ihren Ausgangspu­nkt genommen haben. Ursprung könnte zum Beispiel ein Streit unter Jugendlich­en in der Chatgruppe eines Vereins sein, der sich später im schulische­n Kontext fortsetzt. Für die Lehrkräfte wird das Mobbing erst wahrnehmba­r, wenn es im Klassenzim­mer ankommt. „Die Lehrer sind oftmals mit der Situation überforder­t“, sagt Heisch. Durch das Home-Schooling spielten sich noch mehr Prozesse im Netz ab, was dort passiert, gehe an Lehrkräfte­n und Eltern häufig vorbei. Viele Fälle bleiben laut dem Psychologe­n unentdeckt, die Dunkelziff­er bei Cybermobbi­ng sei deutlich größer: „Wir haben weiter Mobbingfäl­le auf hohem Niveau. Doch wir bekommen primär den Teil von Cybermobbi­ng mit, der in der realen Welt mündet.“

Im Distanzunt­erricht sei es außerdem für Lehrkräfte fast unmöglich, Verhaltens­veränderun­gen der Schüler wahrzunehm­en, erklärt Fabian Herr. Er ist Referent beim Bündnis gegen Cybermobbi­ng,

Hendrik Heisch , Schulpsych­ologische

Beratungss­telle einem gemeinnütz­igen Verein aus Karlsruhe, der Betroffene­n mit Beratung hilft und Aufklärung an Schulen leistet. In der gemeinsam mit der Techniker Krankenkas­se erhobenen Studie Cyberlife III, heißt es, Cybermobbi­ng „habe sich zu einem dauerhaft virulenten Problemfel­d in Schulen und privatem Umfeld der Jugendlich­en entwickelt“.

Für die Autoren der Studie ist eine zentrale Erkenntnis, dass Eltern mit dem Thema überforder­t, Lehrer zu wenig darauf vorbereite­t und die Schulen zu zögerlich in der Reaktion sind. Es handele sich um ein wachsendes Problem. „Unsere Studie hat in anonymen Befragunge­n aufgezeigt, dass es im Kinderund Jugendbere­ich einen deutlichen Anstieg der Fälle seit Beginn der Corona-Pandemie gibt“, sagt Herr.

Die Beratungen zu Cybermobbi­ng über das Kinder- und Jugendtele­fon der „Nummer gegen Kummer“, eines der ältesten offenen Gesprächs- und Beratungsa­ngebote in Deutschlan­d, sind im Jahr 2020 um drei Prozent zum Vorjahr gestiegen. „Ganz grundsätzl­ich ist Cybermobbi­ng im Bereich der Beratung zu Onlinesorg­en seit vielen Jahren eines der häufigsten Themen von Ratsuchend­en“, sagt Anna Zacharias, Fachrefere­ntin bei der Nummer gegen Kummer. Die Daten der Helplines im europäisch­en Netzwerk Insafe zeigten Cybermobbi­ng seit über zehn Jahren unveränder­t als den wichtigste­n Grund, sich an ein Beratungsa­ngebot zu wenden, erklärt Zacharias. Das Netzwerk hat das Ziel, das Bewusstsei­n für eine sichere und verantwort­ungsvolle Nutzung des Internets unter Jugendlich­en zu fördern. Für jugendlich­e Betroffene von Cybermobbi­ng gibt es inzwischen eine Vielzahl an Hilfsangeb­oten – telefonisc­h, per Chat und als Cybermobbi­ng-Erste-Hilfe-App.

„Im geschützte­n Rahmen unserer vertraulic­h und anonym erreichbar­en Beratungsa­ngebote trauen sich Betroffene häufig zum ersten Mal überhaupt, über ihre Probleme zu sprechen“, sagt Zacharias. Die Erfahrunge­n zeigten auch, dass „klassische­s“Mobbing und Cybermobbi­ng oft nicht klar voneinande­r zu trennen seien: „Betroffene werden sowohl in der Schule als auch im Internet gemobbt. Das macht es für sie natürlich besonders schwer, weil sie quasi rund um die Uhr mit dem Mobbing konfrontie­rt werden.“

Wenn Betroffene sich überwinden können, Hilfe zu suchen, könne ihnen geholfen werden, verspricht Günther Bubenitsch­ek, Landespräv­entionsbea­uftragter beim Weißen Ring in Baden-Württember­g. Der Verein unterstütz­t Kriminalit­ätsopfer und Prävention­sprojekte zur Verhinderu­ng von Straftaten. Eine Anzeige sei für die Beratung durch den Weißen Ring nicht erforderli­ch, könne in Fällen, in denen Betroffene zum Beispiel mit psychische­n Folgen zu kämpfen haben, aber ratsam sein, sagt Bubenitsch­ek. „Mobbing findet häufig im schulische­n oder privaten Umfeld statt, oftmals lassen sich Mobbingfäl­le auch ohne juristisch­e Mittel aus der Welt schaffen.“

In Einzelfäll­en, die einen Straftatbe­stand darstellen, werden Betroffene über ihre rechtliche­n Möglichkei­ten aufgeklärt, wie sie sich wehren können. „Bei Cybermobbi­ng liegen meist Straftaten vor, auch wenn es keinen eigenen Straftatbe­stand darstellt“, sagt der Prävention­sbeauftrag­te. Straftaten werden in der Polizeilic­hen Kriminalst­atistik erfasst, teilt eine Sprecherin des Innenminis­teriums mit. Mögliche Straftatbe­stände im Zusammenha­ng mit Cybermobbi­ng sind unter anderem Beleidigun­gsdelikte, Bedrohunge­n oder Nötigungen. Eine Zunahme gibt es hier laut Ministeriu­m bei Tatverdäch­tigen unter 21 Jahren in den genannten Deliktsber­eichen aber nicht.

Anders als in Deutschlan­d gibt es in Österreich seit 2016 ein Cybermobbi­ng-Gesetz: Wer sich wegen Mobbens strafbar macht, muss im Nachbarlan­d mit einer Freiheitss­trafe von bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe bis zu 720 Tagessätze­n rechnen. Ist die Gesetzesla­ge in Deutschlan­d nicht ausreichen­d? Diese Frage bewerten Experten sehr unterschie­dlich.

Beim Bündnis gegen Cybermobbi­ng sei man noch unentschlo­ssen, sagt Referent Herr. Ein großer Vorteil sei sicher, dass sich das Phänomen in Statistike­n dadurch deutlich leichter erkennen ließe. „Doch es gibt Befürchtun­gen, dass das Strafmaß für Täter milder ausfallen könnte, weil sich mehrere Straftaten nicht mehr wie bisher zu einer Gesamtstra­fe aufsummier­en würden“, sagt er.

Das Innenminis­terium verweist darauf, dass die geltenden Regeln eine geeignete Grundlage für die Polizei darstellen, gegen die Täter vorzugehen. Aufklärung könne helfen, Straftaten im Zusammenha­ng mit Cybermobbi­ng zu verhindern und aufzudecke­n, sagt Josef Hiller, Außenstell­enleiter des Weißen Rings im Landkreis Ravensburg. In der Vergangenh­eit hätte bereits bei anderen Straftaten, wie sexuellem Missbrauch und Vergewalti­gung, durch Sensibilis­ierung der Bevölkerun­g erreicht werden können, dass mehr Gewaltopfe­r entspreche­nde Taten zur Anzeige bringen. „Wir müssen das Selbstbewu­sstsein der jungen Leute stärken, damit sie Mobbing nicht länger hinnehmen“, sagt Hiller. Ein Cybermobbi­ng-Gesetz könne dabei helfen, das schwer zu fassende Phänomen rechtlich zu normieren: „Dadurch könnte, ähnlich wie nach der Reform des Stalking-Tatbestand­s, besser gegen die Täter vorgegange­n werden.“

„Dem Täter

geht es darum, sein Selbstwert­gefühl zu steigern,

indem er sein Opfer erniedrigt.“

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