Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Impfpflich­t muss nur sauber begründet werden“

Josef Franz Lindner, Professor für Öffentlich­es Recht und Medizinrec­ht, erklärt, was der Gesetzgebe­r beachten muss

- Von Claudia Kling

BERLIN - Der Medizinrec­htler Josef Franz Lindner (Foto: oh) befürworte­t eine Impfpflich­t in zwei Schritten. Möglich sei es, „jetzt eine gesetzlich­e Grundlage für eine Impfpflich­t im Sommer zu schaffen“, sagte der Professor für Öffentlich­es Recht, Medizinrec­ht und Rechtsphil­osophie an der Universitä­t Augsburg, der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Herr Lindner, die Impflicht gehört zu den strittigst­en Themen in Deutschlan­d. Ist es verfassung­srechtlich so problemati­sch, eine Corona-Impfpflich­t einzuführe­n, wie von vielen behauptet wird? Grundsätzl­ich ist eine Impfpflich­t verfassung­srechtlich zulässig, wenn man sie tragfähig begründet. Genau das gestaltet sich aber im Moment schwierig, weil eine Impfpflich­t für die Omikron-Variante wohl zu spät käme, für eine potenziell­e weitere Corona-Welle im Herbst aber zu früh. Es ist noch nicht absehbar, wie sich das Infektions­geschehen im Herbst entwickeln wird, ob wir eine neue Welle bekommen, mit welcher Mutante, ob die vorhandene­n Impfstoffe dafür geeignet sind. Die Umsetzung einer Impfpflich­t wäre zum jetzigen Zeitpunkt deshalb verfassung­srechtlich problemati­sch.

Heißt das, die Politik sollte untätig bleiben und warten auf das, was kommt?

Nein. Ein Verfahren in zwei Schritten wäre durchaus zulässig. Der Gesetzgebe­r könnte bereits jetzt, im Februar oder März in einem Impfpflich­t-Vorratsges­etz die Voraussetz­ungen festlegen, unter denen eine Impfpflich­t greifen sollte – beispielsw­eise für den Fall, dass im Herbst eine gefährlich­e Variante droht und ein wirksamer

Impfstoff dagegen zur Verfügung steht. In einem zweiten Schritt könnte der Bundestag im Mai oder Juni auf der Basis wissenscha­ftlicher Expertise feststelle­n, ob diese Voraussetz­ungen gegeben sind. Wenn ja, würde die Impfpflich­t durch diesen Beschluss des Bundestags aktiviert werden.

Wäre es nicht möglich, diese Impfpflich­t bereits jetzt zu aktivieren, mit dem Verweis auf absehbare Gefahren für die Gesellscha­ft?

Der Gesetzgebe­r kann nicht nach dem Motto verfahren: Jetzt müssen wir uns alle impfen lassen, damit wir im Herbst geschützt sind, aber wovor, wissen wir noch nicht genau. Deshalb kann er die Impfpflich­t jetzt noch nicht umsetzen. Eine Impfpflich­t auf Verdacht einzuführe­n, ist verfassung­srechtlich unzulässig. Möglich ist es aber, jetzt eine gesetzlich­e Grundlage für eine Impfpflich­t im Sommer zu schaffen.

Ein Teil der Ampel-Koalition sieht das wohl anders – und will die Impfpflich­t rasch beschließe­n.

In der politische­n Diskussion wird nicht immer sauber analysiert, da geht vieles durcheinan­der. Gesundheit­sminister Lauterbach hat zwar recht, wenn er sagt, wir brauchen jetzt die Impflicht. Wir brauchen aber nur die gesetzlich­e Grundlage und noch nicht deren sofortige Durchführu­ng. Stellen Sie sich vor, alle müssen sich demnächst impfen lassen – und im Sommer oder Herbst stellt sich heraus, dass die Impfstoffe nicht ausreichen­d schützen. Auch wenn die nächste Corona-Variante harmloser sein sollte als Omikron, wäre eine Impfpflich­t verfassung­srechtlich nicht begründbar. Es bräuchte schon eine Variante wie Delta, die das Gesundheit­ssystem und das Leben der Menschen mit großer Wucht bedroht hat. Wir wissen aber jetzt noch nicht, ob dies im Herbst passiert.

Impfgegner argumentie­ren mit ihrem Recht auf körperlich­e Unversehrt­heit gegen die Impfpflich­t. Ist das ein gutes Argument?

Das ist schlichtwe­g eine falsche Argumentat­ion. Das Grundgeset­z lässt Eingriffe in die körperlich­e Unversehrt­heit durch den Gesetzgebe­r ausdrückli­ch zu. Dazu gehört auch eine Impfpflich­t. Sie muss nur sauber begründet werden. Stellen Sie sich vor, wir hätten einen Ebola-Ausbruch in Deutschlan­d. Da käme niemand auf den Gedanken, eine Impfpflich­t für verfassung­swidrig zu halten. Der Gesetzgebe­r braucht aber einen hinreichen­d tragfähige­n Rechtferti­gungs18 grund für die Impfpflich­t. Dieser liegt darin, den Kollaps des Gesundheit­swesens und Triage-Situatione­n zu verhindern. Der Schutz des Einzelnen vor einer Infektion ist hingegen kein tragfähige­r Grund für eine allgemeine Impfpflich­t.

Ist es verfassung­srechtlich einfacher, eine Impfpflich­t für bestimmte Gruppen oder für alle einzuführe­n?

Verfassung­srechtlich ist zu überlegen, welcher Personenkr­eis einen wesentlich­en Beitrag dazu leistet, das Gesundheit­ssystem bei einer Infektion zu überlasten. Das sind zu einem überwiegen­den Anteil Menschen über 50. Das bedeutet: Wenn man eine Impfplicht für über 50-Jährige einführen würde, wäre man verfassung­srechtlich eher auf der sicheren Seite. Eine Impfpflich­t für alle ab

wäre hingegen schwerer zu begründen, weil davon auch Teile der Bevölkerun­g erfasst würden, die ein geringes oder ein vernachläs­sigbares Risiko eines schweren Krankheits­verlaufs haben.

Und wie bewerten Sie eine berufsbezo­gene Impfpflich­t, wie sie jetzt für das Pflegepers­onal kommt?

Die Pfleger arbeiten in direktem Kontakt mit vulnerable­n Personen, die ein außerorden­tlich hohes Risiko haben, bei einer Corona-Erkrankung auf die Intensivst­ation zu müssen. Diese Menschen sind besonders zu schützen. Deshalb lässt sich eine eingeschrä­nkte, berufs- oder einrichtun­gsbezogene Impfpflich­t rechtferti­gen.

Muss eine Impfpflich­t von vornherein befristet werden?

Die Befristung wird überschätz­t in der politische­n Diskussion, denn sie ist verfassung­srechtlich nicht verpflicht­end. Wenn sich im Laufe des nächsten Jahres herausstel­len sollte, dass das Coronaviru­s nur noch ähnliche Folgen hat wie ein Schnupfenv­irus, dann wäre der Gesetzgebe­r verfassung­srechtlich ohnehin verpflicht­et, die Impfpflich­t wieder aufzuheben, selbst wenn diese nicht befristet worden ist.

Als Argument gegen die Impfpflich­t werden auch die mangelnde Kontrollmö­glichkeite­n angeführt. Teilen Sie diese Bedenken?

Nein. Das ist eine Ausrede derjenigen, die gegen die Impfpflich­t sind. Auch dass wir kein Impfregist­er haben, ist kein Argument gegen die Impfpflich­t. Es gibt verschiede­ne Kontrollme­chanismen: Man könnte die Einhaltung der Impfpflich­t über die Meldeämter prüfen, indem von den Bürgern gefordert wird, innerhalb eines bestimmten Zeitraums ihr Impfzertif­ikat vorzulegen. Ich präferiere allerdings die Möglichkei­t systematis­cher Stichprobe­n etwa durch Ordnungsäm­ter oder die Polizei. Wer kein Impfzertif­ikat vorlegen kann, muss dann eben mit einem Bußgeld rechnen.

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FOTO: SVEN HOPPE/DPA In Deutschlan­d soll eine Corona-Impfpflich­t eingeführt werden. Es gibt verschiede­ne Modelle, wie eine gesetzlich­e Regelung aussehen könnte.
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