Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Schatten der Vergangenheit
Die Stadt Tuttlingen und ihr seltsames Denkmal zum nationalistischen Lied „Die Wacht am Rhein“- Neues Konzept zum Umgang wird gesucht
an kann ●es machen wie im englischen Bristol: Die Figur des Sklavenhändlers vom Sockel wuchten, zum Hafen rollen und – platsch. Eine spontane Aktion des Volkszorns im Zuge der Black-Lives-Matter-Debatte. Man kann es machen wie in Richmond im US-Bundesstaat Virginia: Den rassistischen Bronzegeneral in 100 Stücke sägen, einlagern und irgendwann entscheiden, wie man diese entsorgt. Immerhin nach einem Beschluss des Stadtrats – die Reiterstatue des SüdstaatenMilitärs Robert E. Lee galt Neonazis als Kultstätte. Man kann es auch machen wie in Berlin: Den überdimensionalen Leninkopf aus dem Bezirk Friedrichshain erst einmal in der Erde vergraben, Jahre später wieder ausgraben und in einem Depot lagern. Wo Gäste den Trumm bestaunen dürfen, anfassen ausdrücklich erlaubt.
Oder man kann es machen wie die Stadt Tuttlingen: Das Schneckenburger-Denkmal einhegen. Gemeinsamen mit den Bürgerinnen und Bürgern, die Ideen liefern sollen. Einstimmig hat der Gemeinderat beschlossen, einen „Prozess zu starten“, so nennt es das Rathaus, einen Prozess, „in dem das Denkmal aus heutiger Sicht beleuchtet wird“. 85 Jahre nach seiner Einweihung in der Nazizeit. Doch woran erinnert es überhaupt, und was macht es toxisch?
Eigentlich ist das Schneckenburger-Denkmal im Tuttlinger Stadtgarten eine Kuriosität. Es erinnert in seinem Namen an einen Dichter und thematisch an eines seiner Lieder. Max Schneckenburger: Geboren 1819 im nahen Talheim, in Tuttlingen zur Schule gegangen, beruflich Kaufmann, gestorben mit nur 30 Jahren 1849 bei Bern, in seinem Heimatdorf beigesetzt. Sein Geburtshaus ist heute ein kleines Heimatmuseum, ihm gewidmet. Er gilt als großer Sohn der Gemeinde. Ist er das?
Sein literarisches OEuvre ist denkbar schmal: ein wenig Poesie als Jugendlicher, ein paar Aufsätze über Politik und soziale Themen, eine Kritik über Webers „Freischütz“. In manchen Dingen schreibt Schneckenburger gemäßigt liberal, die Todesstrafe lehnt er aus christlicher Position ab, er denkt demokratisch und steht dem „scheinheiligen Aristokratismus“kritisch gegenüber. Alles keine ausreichenden Gründe, ihn mit einem Denkmal zu würdigen. Aber da ist dieses eine Lied, das er im November 1840 schreibt: „Die Wacht am Rhein“. Er reagiert damit auf französische Forderungen, das linke Rheinufer an Frankreich zurückzugeben – späte Nachwehen der napoleonischen Zeit.
Die „Wacht am Rhein“: Heute wirken die fünf Strophen nebst Refrain
Munfreiwillig komisch, überzogen patriotisch, durchaus aggressiv-drohend. „Es braust ein Ruf wie Donnerhall, / wie Schwertgeklirr und Wogenprall: / Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein! / Wer will des Stromes Hüter sein!“Frankreich wird namentlich nicht genannt, ist aber gemeint, wenn die „heil’ge Landesmark“geschützt werden soll. Im Refrain heißt es: „Lieb Vaterland magst ruhig sein, / lieb Vaterland magst ruhig sein: / Fest steht und treu die Wacht, / die Wacht am Rhein!“Durch den ganzen Text, 20 Zeilen, ziehen sich viele Ausrufezeichen.
Zu Lebzeiten Schneckenburgers macht das Lied keine große Karriere. 1854 wird es aber vertont, und im deutsch-französischen Krieg 1870/71 wird es plötzlich zu einer neuen Nationalhymne, zumal nach dem schnellen Sieg der Truppen unter preußischer Führung und der Reichsgründung in Versailles. Bismarck erklärt nach dem Krieg, die „Wacht am Rhein“wäre „mehr wert gewesen, als wenn wir ein paar Armeekorps mehr am Rhein stehen gehabt hätten“. Die Witwe des Dichters erhält wie Komponist Karl Wilhelm eine Ehrenrente.
In Tuttlingen entsteht später das erste Schneckenburger-Denkmal, eine martialische Germania, die im Ersten Weltkrieg allerdings eingeschmolzen wird, um Kanonen für einen Krieg gegen Frankreich daraus zu schmieden – Ironie der Geschichte. Unter den Nazis wird es durch die große Skulptur ersetzt, die heute noch steht. Ausführender Künstler ist Fritz von Graevenitz aus Stuttgart, ein treuer Parteigänger, der später auf Hitlers „Gottbegnadeten-Liste“stehen wird – Künstler, die zu „wertvoll“sind, als dass sie in den Krieg müssen. 1937 wird das neue SchneckenburgerDenkmal eingeweiht. Keine Statue des Dichters, dafür: grimmige Männer auf herrischen Pferden, nein: Rossen, die auf Wellen, nein: Wogen, Richtung Westen stürmen. Ein Lied in hellem Muschelkalk.
Nach dem Krieg: Keine Auseinandersetzung mit dem fragwürdigem Denkmal. An seinem Sockel hängt ein lapidarer Hinweis auf den Bildhauer, ohne dessen Verstrickung in den NSStaat zu thematisieren, ein paar Zeilen über Schneckenburger („Nach seinem Tod berühmt durch das Gedicht „Die Wacht am Rhein“). Noch 2012 fehlt in einem Stadtführer über Kunst und Kultur in Tuttlingen jeder Hinweis auf Nazianklänge. Es ist, steht dort in aller Schlichtheit, ein „Beispiel für den reduzierten Klassizismus in der deutschen Skulptur der 1930er-Jahre“. Dass Fritz von Graevenitz ein Nazikünstler war, Direktor der Stuttgarter Akademie von NSGnaden: kein Wort.
Spät, aber nicht zu spät, hat die Stadt Tuttlingen diesen fahrlässigen Umgang mit ihrer Geschichte erkannt. Einhellig hat der Gemeinderat das von der Verwaltung vorgeschlagene Konzept gebilligt. Eine Entfernung des Denkmals hatte die Verwaltung ausdrücklich nicht vorgeschlagen. Am Ende des Prozesses könnte eher, so Pressesprecher Arno Specht, eine Ausstellung stehen, eine Kommentierung oder auch eine Ergänzung durch ein anderes Kunstwerk – der Weg sei hier noch offen. Auf jeden Fall wird unter Federführung der Städtischen Galerie und des Stadtarchivs ein Workshop vorbereitet, der in diesem Jahr stattfinden soll.
Zwei Schwerpunkte sollen dabei untersucht werden: Zum einen die Geschichte des Denkmals selbst samt der Biografie des Fritz von Graevenitz. Ein zweites Thema soll die Aussage des Denkmals selber sein. „In Zeiten, in denen wir stolz auf die europäische Einigung und die deutschfranzösische Freundschaft sind“, so Specht, „muss man auch dies kritisch hinterfragen.“
Die Diskussion um das Denkmal passt in den eigentlich proaktiven Umgang der Stadt Tuttlingen mit ihrer Vergangenheit. Hier werden regelmäßig „Stolpersteine“zum Gedenken an Naziopfer verlegt, hier gibt es den Gedenkpfad an das Lager Mühlau, in dem unter den Nazis Kriegsgefangene, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie später Heimatvertriebene lebten, hier gibt es regelmäßig verdienstvolle Publikationen und Ausstellungen. Doch auch in diesem Prozess gibt es Lücken: Parallel zur neuen Behandlung des Themas „Schneckenburger“untersucht Stadtarchivar Alexander Röhm die Namenspatrone mehrerer Tuttlinger Straßen. Maler wie Hans Dieter, der Mundartdichter August Lämmle und der Schriftsteller Ludwig Finckh werden in der Donaustadt mit Straßennamen gewürdigt – doch alle haben sie ihre dunklen NS-Punkte in ihren Biografien. Aufgefallen ist das erst im vergangenen Jahr. Und auch nach dem Nazibildhauer Fritz von Graevenitz ist nach wie vor ein Weg benannt.