Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Familie sucht Alltagsbegleiter für Tochter Jessica
Die 27-Jährige braucht tagsüber Betreuung – Mitarbeiter sind über eigene Pflegefirma beschäftigt
MECKENBEUREN - Im Grunde suchen Martina und Thomas Reuter einfach Menschen, die für ihre Tochter Jessica da sind. Doch Corona erschwert dies. Und das, obwohl der Job ordentlich bezahlt sei und keine großen Vorkenntnisse brauche, sagen die Eltern. Jessica Reuter hat eine neurologische Entwicklungsstörung und braucht diese Betreuung zwingend. Immer wieder gibt es da Wechsel. Und jede offene Stelle ist da eine Zusatzbelastung für die Familie, die das dann abfedern muss. Zumal ein Schicksalsschlag dazu kam.
Martina und Thomas Reuter sitzen mit ihrer 27-jährigen Tochter Jessica am Tisch. Sie ist vor ein paar Minuten aufgewacht und trinkt einen Schluck. Martina Reuter hält die Flasche in der Hand, ihre Tochter stützt diese leicht mit. Etwa 50 Menschen in Deutschland erkranken jedes Jahr am sogenannten Rett-Syndrom. Im Kleinkindalter war irgendwann klar, dass es bei Jessica aufgetreten war. Seitdem setzen die Eltern Himmel und Hölle in Bewegung, damit die Rahmenbedingungen stimmen.
Der frühere Transportunternehmer gründete zeitig ein eigenes Unternehmen im Pflegebereich, das sogenannte „Alltagsbegleiter/innen“beschäftigt. Das Ganze läuft in Vollzeit, an jedem Tag gibt es Früh- und Spätschicht, gefragt ist vor allem Aufmerksamkeit. Es geht um Freizeitbeschäftigung für die 27-Jährige, um Beobachtung, um Hilfestellung. Aber, das machen Reuters klar, es geht nicht um Pflege. Wer ohne Vorkenntnisse in diesem Bereich anfängt, den leiten Martina und Thomas Reuter an.
„Schielst du?“, fragt Martina Reuter. Sie streichelt ihrer Tochter durchs Haar und über die Schulter und spricht mit ihr. Die 27-Jährige richtet ihre Augen wieder geradeaus und schaut jetzt wieder ganz klar. Hin und wieder deutet sich bei ihr mal ein epileptischer Anfall an, auch in diesem Moment hätte es losgehen können. Blickkontakt, Zureden, eine Berührung – das hilft, einen solchen Anfall schon früh zu stoppen. Die Notfallspritze kommt dann nicht zum Einsatz: „Es kommt eben darauf an, das wirklich schon am Anfang zu erkennen“, sagt Martina Reuter.
Ihr Mann Thomas kämpft gerade selbst: Vor zwei Jahren noch strotzte er vor Energie, konnte schier das Gewicht der Welt auf seinen Schultern tragen. Die Zäsur für ihn war dann noch nicht mal die Krebsdiagnose, sondern die spätere Komplikation nach dem geplanten Eingriff Anfang Januar 2020. Erst kam die Not-OP, dann folgte das mehrwöchige Koma. Thomas Reuter kämpfte nach dem Aufwachen auf der Intensivstation weiter, als Corona gerade begann. Und seine Frau wirbelte daheim. Sie organisierte das Transportunternehmen, kümmerte sich um Tochter Jessica, an deren Wohnung zudem gerade gebaut wurde, schmiss den Haushalt, brachte Sachen für ihren Mann zum Krankenhaus, den sie wegen Corona dann auch nicht mehr sehen durfte. „Ich weiß gar nicht, wie ich das alles geschafft habe“, sagt sie.
Ihr Mann Thomas würde gern mehr helfen, mehr unterstützen. Dabei schafft er das für seine Tochter schon durch seine Anwesenheit. „Jessica hat ihren Papa unheimlich vermisst“, sagt Martina Reuter. Der Zustand verschlechterte sich, hat sich mittlerweile aber wieder auf dem früheren Niveau stabilisiert. Beim Rett-Syndrom gibt es keine Hoffnung darauf, dass verlorene Fähigkeiten wieder zurückkehren. Beide würden gern noch einmal ihre Stimme hören. Aber sie rechnen nicht mehr damit. Ihre Tochter spricht ohne Worte. Sie sucht Blickkontakt, zeigt ihre Freude, wenn sie etwas macht, was ihr gefällt.
Und das ist das, was sich die beiden Eltern für ihre Tochter Jessica wünschen: Menschen, die sie begleiten. Die für sie da sind. Die auch mal etwas mit ihr unternehmen. Wer gern Rad fahre, könne beispielsweise das umgebaute E-Bike nutzen. Oder Schwimmen gehen. Oder auch einfach mal da sein. Und Martina und Thomas Reuter sagen, sie seien im Grunde auch immer ansprechbar, wenn die Begleitperson Hilfe oder Unterstützung brauche.
Immer wieder sei es zuletzt bei Bewerbungen zu Grundsatzdiskussionen rund ums Impfen gekommen. Nur: Die interessiert Familie Reuter in diesem Zusammenhang nicht. Ob sich jemand impfen lasse oder nicht, sei Sache der Einzelnen, sagt Thomas Reuter. Doch er selbst hat nach seiner Krebserkrankung gesundheitlich ein großes Päckchen zu tragen. Und auch seine Tochter gehört zur Hochrisikogruppe.
Als zweiter Faktor kommt dazu, dass die Alltagsbegleiter über ein eigens für Jessica Reuter gegründetes Unternehmen angestellt werden, das den Regularien des Gesundheitswesens unterliegt. Und damit dürfen bald ohnehin nur noch Personen mit Impfschutz dort arbeiten. Da sie immer langfristig suchen würden, sagt Thomas Reuter, sei das ein zusätzlicher Faktor, der hier eine Rolle spiele.