Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Politik braucht Prioritäten
Ein bisschen Schulterklopfen ist erlaubt. Einige der Ziele, die sich Grüne und CDU vor einem Jahr per Koalitionsvertrag gesetzt haben, sind erreicht. Dass die Solardachpflicht für Neubauten und die Reform des Landtagswahlrechts bereits Gesetz sind, zeugt von einem neuen grün-schwarzen Miteinander. Beide Themen waren in der vergangenen Legislaturperiode noch wahre Zankäpfel. Seit ihrer Neuauflage arbeitet die Koalition deutlich geschmeidiger und kooperativer.
Diese neue Stabilität gerät aktuell zunehmend ins Wanken. Verteilungskämpfe zwischen den Ministerien und den Regierungsfraktionen sind programmiert. Die Inflation macht den Bürgern zu schaffen, Corona ist längst nicht weg, die Klimakrise braucht entschiedenes Handeln, schon jetzt sind mehr Menschen aus der Ukraine in den Südwesten geflüchtet als Asylsuchende im Krisenjahr 2015. Die Topthemen liegen auf der Hand: Es braucht dringend mehr bezahlbaren Wohnraum, mehr Lehrer und Erzieher, mehr erneuerbare Energien. Die Wirtschaft braucht Unterstützung bei ihrer zwingenden Transformation – bei Digitalisierung und CO2-Reduktion. All das kostet sehr viel Geld, von dem der Südwesten künftig mutmaßlich weniger haben wird.
Das sind vor allem die Grünen nicht gewohnt. Seit Beginn ihrer Regierungszeit 2011 sprudelten die Steuern in immer erfreulichere Höhen. Der Haushalt wuchs und wuchs – wenn auch zuletzt aufgrund neuer Schulden zur Bewältigung der Pandemie. Wenn es der Koalition aber ernst ist mit dem Ziel einer enkelgerechten Finanzpolitik, muss die gesamte Führungsmannschaft in Stuttgart umdenken. Förderprogramme müssen auf den Prüfstand, es muss Schluss sein mit dem Automatismus, dass neue Aufgaben zwingend mehr Personal bedeuten. Das beschwören zwar auch die Koalitionäre, sie handelten bislang aber nie danach.
Um die großen Themen unserer Zeit zu meistern, braucht es Konzentration aufs Wesentliche. Der Koalitionsvertrag liefert lediglich ein Wünsch-dir-was auf 162 Seiten statt eines strukturierten Arbeitsprogramms. Es wird zwingend Zeit für eine Prioritätenliste.