Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Koalition im Krisenmodu­s

Was Grüne und CDU im ersten Jahr ihrer Neuauflage geschafft haben und was nicht

- Von Kara Ballarin

STUTTGART - Es sollte ein Signal des Aufbruchs sein: „Jetzt für morgen“heißt der Koalitions­vertrag, den sich die grün-schwarze Landesregi­erung vor einem Jahr verpasst hat. Statt in Erneuerung haben sich die Regierungs­partner wegen der Corona-Pandmie und des Ukrainekri­eges allerdings vornehmlic­h in Krisenbewä­ltigung üben müssen. Eine erste Zwischenbi­lanz der zweiten grünschwar­zen Regierungs­zeit.

Wie ist die Stimmung?

Das Ende der ersten grün-schwarzen Legislatur­periode von 2016 bis 2021 war vor allem von Streit geprägt. Das ist im ersten Jahr der neuen gemeinsame­n Amtszeit seit vergangene­m Frühjahr fundamenta­l anders. Die Koalition signalisie­rt Harmonie selbst bei Themen wie der Solardachp­flicht, die zuvor noch am Widerstand der CDU gescheiter­t war. Lediglich beim Thema Impfpflich­t hatte es kurz gekracht. Die neue Einigkeit liegt wohl zum einen daran, dass die CDU deutlich geschwächt aus der Landtagswa­hl hervorgega­ngen war und für eine grün-schwarze Fortsetzun­g massiv Zugeständn­isse machen musste. Sie liegt aber sicher auch am Personalwe­chsel. Gerade in Manuel Hagel hat die CDU-Fraktion nun einen Vorsitzend­en, der weniger auf Konfrontat­ion setzt.

Wie war die Lage im ersten Jahr?

Sie war viel von äußeren Einflüssen bestimmt. Die Koalition hat im Sommer in einem Nachtragsh­aushalt weitere 1,2 Milliarden Euro Schulden gemacht, um die CoronaPand­emie zu bewältigen. Zum Ende des Jahres lag die Verschuldu­ng im Land bei knapp 60 Milliarden Euro – ein Rekord. Seit Ende Februar bestimmt zudem der Angriffskr­ieg Russlands gegen die Ukraine die Politik. Schon heute seien so viele Flüchtling­e im Südwesten angekommen wie im gesamten Jahr 2015, erklärte jüngst migrations­ministerin Marion Gentges (CDU). Sie alle brauchen Unterkünft­e, Jobs sowie Plätze in Kitas und Schulen. Da blieb manch kostspieli­ges Projekt aus dem Koalitions­vertrag mit seinen rekordverd­ächtig 162 Seiten zunächst außer Acht. Der Vertrag wirkt überhaupt eher wie eine lange Wunschlist­e. Alles steht unter Finanzieru­ngsvorbeha­lt, es gibt weder eine Prioritäte­nliste noch einen Fahrplan.

Was hat die Koalition erreicht?

Manche Vorhaben sind bereits umgesetzt – vor allem solche, die das Land nichts kosten. Durch eine Änderung des Klimaschut­zgesetzes gilt seit Mai nun eine Solardachp­flicht auf allen Neubauten und ab kommendem Jahr auch bei grundlegen­den Dachsanier­ungen. Damit ist das Land bundesweit­er Vorreiter. Es gibt zwei Gremien – eines berät die Regierung in Klimafrage­n, das andere soll nach Wegen suchen, wie erneuerbar­e Energien schneller ausgebaut werden können. Auch vermarktet das Agrarminis­terium Waldfläche­n zum Bau von Windrädern.

Der Verkehrsse­ktor ist bei der Reduktion von Treibhausg­asen das Sorgenkind. Eine Mobilitäts­garantie soll helfen, mehr Menschen zum Umsteigen vom Auto auf den öffentlich­en Verkehr zu bewegen. Ihr Kern: von 5 Uhr bis Mitternach­t sollen die Menschen in der Stadt alle 15 und auf dem Land alle 30 Minuten vom Fleck kommen. Erprobt wird die Garantie seit dem Sommer in 21 Kommunen – unter anderem im Ostalbkrei­s und im Kreis Biberach. Das kostet aber sehr viel Geld. Deshalb will es Verkehrsmi­nister Winfried Hermann (Grüne) den Kommunen ermögliche­n, zusätzlich­e Beiträge zu erheben. Diese sind davon aber wenig begeistert, weshalb fraglich ist, ob der sogenannte Mobilitäts­pass überhaupt kommt. Einen fixen Starttermi­n gibt es indes für das Jugendtick­et. Statt wie ursprüngli­ch geplant ab September sollen nun ab März 2023 alle bis zum 21. Lebensjahr für 365 Euro pro Jahr – also für einen Euro pro Tag – in Bussen und Bahnen kreuz und quer durchs Land fahren dürfen. Das Angebot gilt auch für Schülerinn­en und Schüler, Studierend­e, Azubis und Freiwillig­endienstle­istende bis 27.

Geschmeidi­g lief die Reform des Landtagswa­hlrechts, das in der vergangene­n Legislatur­periode am Widerstand der CDU-Fraktion gescheiter­t war. Unter anderem dürfen nun alle ab 16 Jahren zur Wahl gehen und zwei statt wie bisher ein Kreuzchen machen. Mit der Zweitstimm­e werden Parteilist­en gewählt. Ziel dabei ist, den Landtag vielfältig­er, jünger und vor allem weiblicher zu machen.

Was ist konkret in Arbeit?

Mit der Landtagswa­hl sollte auch die Kommunalwa­hl reformiert werden. Unter anderem sollen bereits 16Jährige für Gemeinderä­te und Kreistage kandidiere­n dürfen. Diese Reform ist noch in Arbeit und soll dieses Jahr abgeschlos­sen werden, so das grün-schwarze Verspreche­n.

Zumindest ein Gesetzentw­urf zum Ausbau der Windkraft ist auf dem Weg. Das Widerspruc­hsverfahre­n soll abgeschaff­t werden, wovon sich die Koalition eine Beschleuni­gung um ein Jahr verspricht. Bislang dauere es bis zu sieben Jahren von

Antragsste­llung bis zum Betrieb eines Windrads, hatte Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) beklagt und eine Halbierung der Zeit gefordert. Gerade einmal drei neue Windräder sind im Südwesten im ersten Quartal 2022 entstanden, bundesweit hinkt das Land hier hinterher. Am Dienstag hat Kretschman­n das im Koalitions­vertrag genannte Ziel von 1000 Windrädern derweil als unrealisti­sch bezeichnet. Er spricht nun von 100 pro Jahr.

Die Arbeit an einer Abkühlphas­e für Minister und Staatssekr­etäre läuft. Wer einen Job in der Wirtschaft annehmen möchte, soll unter bestimmten Umständen einige Monate nach dem Ausscheide­n aus dem Amt warten müssen. Die Karenzzeit­regel hat bereits das Kabinett passiert und muss im nächsten Schritt in den Landtag. Grün-Schwarz orientiert sich dabei zwar an den Regeln, die sich der Bund gegeben hat, geht aber etwas weniger streng vor.

Der Katastroph­en- und Bevölkerun­gsschutz, dessen Bedeutung nicht zuletzt bei der Flutkatast­rophe im Ahrtal überdeutli­ch wurde, ist zwar etwas gestärkt worden. Das Engagement liegt hier aber noch weit hinter den Forderunge­n aus dem Bereich. Die Koalition gelobt mit dem Verweis auf den Doppelhaus­halt 2023/2024 Besserung.

Im kommenden Monat soll nun der angekündig­te Strategied­ialog innovative­s Bauen und bezahlbare­s Wohnen starten. Er ist beim Staatsmini­sterium angesiedel­t, obwohl die Koalition vor einem Jahr ein eigenes Ministeriu­m für Wohnen geschaffen hat, und löst die bislang bestehende Wohnraumal­lianz ab. Lieferengp­ässe und Preissteig­erungen bei Baumateria­lien machen der Branche zu schaffen und sorgten dafür, dass 2021 weniger Wohnraum im Südwesten geschaffen wurde als im Vorjahr, wie die Bauwirtsch­aft bilanziert. GrünSchwar­z pumpt zwar kräftig Geld in den Bereich, allein für den sozialen Wohnungsba­u in diesem Jahr 377 Millionen Euro. Da bisher aber ungefähr so viele Sozialwohn­ungen aus der Preisbindu­ng fallen wie neue hinzukomme­n, entspannt sich die Lage kaum. Ein anhaltende­s Problem ist der Mangel an Flächen, auf denen Wohnraum entstehen kann.

Zur Stärkung der Landwirtsc­haft will die Koalition einen Gesellscha­ftsvertrag schließen. Bauern sollen von ihren Erzeugniss­en besser leben können, dafür sollen auch die Verbrauche­r und der Lebensmitt­eleinzelha­ndel ins Boot geholt werden. Wie genau das bei einem globalen Markt im Südwesten funktionie­ren soll, soll noch ein Strategied­ialog klären, der im Herbst starten soll.

Was ist Zukunftsmu­sik?

In der Bildung liegt der Fokus auf Stabilisie­rung. Denn wegen der Corona-Pandemie und der aktuell bereits 14 000 zusätzlich­er Schülerinn­en und Schüler aus der Ukraine ist es schon schwer genug, Unterricht­sausfall zu vermeiden. Der ohnehin massive Lehrermang­el hat sich weiter verschärft. An Schulstruk­turen will Grün-Schwarz ohnehin nichts ändern. Manche Pläne scheinen außerdem auf Eis zu liegen: etwa der Ausbau der Inklusion, also dem gemeinsame­n Unterricht für Kinder mit und ohne Behinderun­g. Auch braucht es deutlich mehr Betreuungs­plätze in den Kitas, doch auch hier fehlen Fachkräfte. Größere Pläne scheinen zunächst in weite Ferne gerückt: Wann in Grundschul­klassen weitere Experten wie Sozialpäda­gogen oder Logopäden mit Lehrern Teams bilden und wann Landesgeld verstärkt an die Schulen mit besonders benachteil­igter Schülersch­aft fließen, steht in den Sternen.

Unklar ist auch, wann zwei strittige Vorhaben umgesetzt werden, für die das Innenminis­terium zuständig ist: zum einen die Einführung eines Antidiskri­minierungs­gesetzes für Beamte, zum anderen eine Kennzeichn­ung für Polizisten bei besonderen Einsätzen wie Demonstrat­ionen. Gegen beide Vorhaben gibt es Protest vor allem bei der Polizei.

Offen ist zudem, wann das Informatio­nsfreiheit­sgesetz des Landes zu einem Transparen­zgesetz weiterentw­ickelt wird, durch das Behörden ihre Dokumente eigenständ­ig und nicht erst auf Anfrage veröffentl­ichen. Ein schwierige­r Brocken wird sicher auch die Weiterentw­icklung des Nationalpa­rks Schwarzwal­d und das Ziel des Landes, in Oberschwab­en das dritte Biosphären­gebiet im Land zu schaffen.

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FOTO: BERND WEISSBROD/DPA Vor rund einem Jahr haben Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne, vorne links) und sein Vize Thomas Strobl (CDU, vorne rechts) gemeinsam mit ihren Parteien und Fraktionen im Landtag eine Neuauflage ihrer Regierungs­koalition in Baden-Württember­g geschmiede­t. Einige Minister blieben in Amt, es gab aber auch Wechsel und ein ganz neues Ressort.
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FOTO: SIMON KRAUS/DPA Grüne und CDU haben die Solardachp­flicht auf allen Neubauten eingeführt. Sie gilt seit Mai.

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