Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Das war doch ein Mann Gottes!“

Richard Kick wurde als Kind eines von vielen Missbrauch­sopfern der katholisch­en Kirche. Ein Gespräch über empathielo­se Kirchenmän­ner und die lange Suche nach Gerechtigk­eit.

- Von Dominik Baur

MÜNCHEN - Richard Kick ist Mitglied des Betroffene­nbeirats des Erzbistums München. Der kümmert sich um die Opfer von Missbrauch in der katholisch­en Kirche. Aufgewachs­en im Münchner Umland, wie die ganze Familie gläubig, wurde Kick als Kind jahrelang von einem Kaplan missbrauch­t. Er berichtet von Verhören durch Kirchenmän­ner, die eigene Ohnmacht und wie er auf das Verhalten von Benedikt XVI. im Missbrauch­sskandal blickt.

Herr Kick, was ist Ihnen als Kind widerfahre­n, als Sie Ministrant in einer Pfarrgemei­nde im Münchner Umland waren?

Es begann, als ich acht Jahre alt war. Da ist der Kaplan mit uns in den Sommerferi­en eine Woche ins Zeltlager gefahren. Er war der einzige Erwachsene, es waren auch keine älteren Jugendlich­en dabei, die bei der Aufsicht geholfen hätten. Und da habe ich bald gemerkt, dass er ein Auge auf mich geworfen hat. Es ging los, dass er kontrollie­rt hat, ob die Badehose noch feucht ist, dann sollte ich mich ausziehen und so weiter. Zum einen hat er sich immer mehr in mein Vertrauen eingeschli­chen, zum anderen kam dann eben auch die Forderung, was ich jetzt mit ihm zu tun hätte. Und von da an hat er mich regelmäßig sexuell missbrauch­t. Das ging rund vier Jahre lang – im Zeltlager, bei Ausflügen, aber auch in der Sakristei.

Haben Sie mitgekrieg­t, ob es noch andere Opfer gab?

Ich glaube, zu dieser Zeit war ich zumindest sein bevorzugte­s Opfer. Danach hat er sich dann, wie ich inzwischen weiß, einen anderen, jüngeren Buben als neues Opfer ausgesucht.

War Ihnen als Achtjährig­em klar, dass das, was dieser Mann mit Ihnen machte, ein Verbrechen war? Zumindest, dass das nicht okay ist, das habe ich schon gemerkt. Das spürt auch ein Kind.

Aber sich an Ihre Eltern zu wenden, war keine Option für Sie? Nein, die hätten mir sowieso nicht geglaubt, geschweige denn, geholfen. Das war doch ein Mann Gottes! Ich weiß von einem anderen Betroffene­n, der ist nach Hause zu seiner Großmutter gegangen und hat gesagt: „Du, Oma, der Kaplan, der macht was mit mir.“Da hat die nur gesagt: „Sei staad, sonst schmier i dir oane.“Das wäre in meinem Fall auch nicht anders gelaufen. Der Kaplan war ja sogar mit meinem Vater in einer Schafkopfr­unde. Und der war natürlich stolz darauf, dass dieser Mann zu uns ins Haus kommt.

Wann haben Sie denn zum ersten Mal mit jemandem darüber gesprochen?

Da war ich schon über 50. Als 2010 nach den damaligen Missbrauch­sskandalen die Medienberi­chterstatt­ung so groß war, saß ich einmal auf dem Sofa vor dem Fernseher, und plötzlich sind mir die Tränen runtergela­ufen. Meine Frau hat mich gefragt, was mit mir los sei, und ich habe gesagt: „Die sprechen ja von mir. Das ist mir ja genau so passiert.“Und dann kam das alles wieder hoch, was ich jahrzehnte­lang verdrängt hatte. Etwas später habe ich dann eine Traumather­apie begonnen und zum ersten Mal angefangen zu verstehen, warum so vieles in meinem Leben schiefgela­ufen ist: Warum ich das Gymnasium mit 14 abgebroche­n und keinen Beruf erlernt habe; warum ich als junger Mann rund 15 Jahre lang alkohol- und tablettena­bhängig war; warum ich jahrzehnte­lang regelmäßig mit Suizidgeda­nken gespielt habe.

Sie hatten das zuvor nie in einen Zusammenha­ng gebracht?

Nein. Ich hielt mich einfach nur für einen Loser, der es halt nicht auf die Reihe bringt.

Wann sind Sie dann auf die Kirche zugegangen?

Kurz darauf habe ich den Dekan meiner Heimatgeme­inde angesproch­en. Der war wirklich erschütter­t, vor allem auch weil er den Täter kannte, der damals noch immer im Dekanat lebte. Den hat er auch gleich nach unserem Treffen mit den Vorwürfen konfrontie­rt, woraufhin dieser gesagt haben muss, er könne sich zwar an nichts erinnern, aber man könne ja über alles reden und Geld spiele keine Rolle. Aber natürlich wollte ich diesen Mann weder treffen noch Geld von ihm nehmen. Im nächsten Schritt habe ich mich dann direkt an die Erzdiözese in München gewandt.

Die hatte eine Anlaufstel­le für Missbrauch­sopfer?

Nein, ich habe bei der Telefonzen­trale angerufen, und da hieß es dann: „Wos? Missbrauch­t san S’ word’n? Da muss i erst moi an Kollegen fragen, wer da für Eahna zuständig ist.“

Aber dann hat man sich doch noch Ihres Falles angenommen?

Ja, ich hatte auch einen kurzen Briefwechs­el mit Kardinal Reinhard Marx und war gemeinsam mit anderen Betroffene­n bei einem Gespräch mit ihm. Aber weitere Briefe wurden von ihm nicht mehr beantworte­t. Dafür wurde ich dann 2011 von Prälat Wolf zur Zeugeneinv­ernahme geladen ...

... Prälat Lorenz Wolf, der höchster Kirchenric­hter im Erzbistum München war und im März 2022 wegen seiner Rolle im Missbrauch­sskandal von allen Ämtern zurücktrat. Genau der. Da saß ich dann vor ihm und zwei anderen Priestern in Schwarz wie vor einem Tribunal. Die haben mich ausgefragt und wollten intimste Dinge von mir wissen, über die ich damals noch nicht wirklich reden konnte. Meine Traumather­apie war damals noch nicht so weit fortgeschr­itten. Und wer erzählt schon gern wildfremde­n Männern, noch dazu Priestern, dass man den Kaplan oral befriedige­n musste und wie das abgelaufen ist?

Die Vernehmung fand im Rahmen des kirchenint­ernen Verfahrens gegen Ihren Peiniger statt. Wurden Sie über dessen Fortgang auf dem Laufenden gehalten? Überhaupt nicht. Erst im letzten Jahr konnte ich Akten einsehen. Das Verfahren ist ja jahrelang verschlepp­t worden. Und der Täter ist dann 2019 in allen Ehren mit Blasmusik und Fahnenabor­dnung beerdigt worden.

Was war in der Zwischenze­it passiert?

Eigentlich nichts. 2012 hatte Wolf seinen Abschlussb­ericht fertiggest­ellt. Aber erst nach fünf Jahren wurde der Fall von Kardinal Marx nach Rom gemeldet. Daraufhin kam dann nach sechs Wochen die Antwort von Gerhard Müller, dem damaligen Präfekten der Glaubensko­ngregation, dass der Vatikan die Verjährung­sfrist nicht aufheben werde, da die Taten schon so lange in der Vergangenh­eit lägen. Er legte allerdings Marx nahe, selbst disziplina­rische Maßnahmen gegen den Täter zu ergreifen. Das hat er aber nicht getan. Und ich habe bis heute keine schlüssige Antwort bekommen, warum der Fall fünf Jahre lang in München liegen geblieben ist und warum Marx den Täter am Ende ungeschore­n davonkomme­n hat lassen.

In den Akten findet sich auch ein sogenannte­s Eindrucksz­eugnis, das Wolf von Ihrer Vernehmung angefertig­t hat. Darin wird Ihnen unter anderem vorgeworfe­n, Sie hätten die Kriterien eines Opfers einstudier­t, seien regelrecht ins Dozieren gekommen.

Diesen Vermerk habe ich zum ersten Mal Ende letzten Jahres zu Gesicht bekommen. Da habe ich schon schlucken müssen. Der hat mich ja wirklich diskrediti­ert, hat geschriebe­n, dass ich lügen würde und aggressiv sei. Wolf war für mich einer der perfideste­n Spieler in dieser Runde. Und ich bin heute der festen Überzeugun­g, dass er und seine Praktiken der Grund sind, warum sich hier im Erzbistum so wenige Betroffene zu Wort melden. Ich habe einmal gesagt, den Wolf sollte man wie einen räudigen Hund vom Hof jagen. Gut, dass er nun von seinen Ämtern entpflicht­et worden ist.

Nach dem Gutachten, das die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl im Januar vorgelegt hat, hat sich Kardinal Marx erschütter­t, erschrocke­n und beschämt gezeigt und versproche­n, das Thema zur Chefsache zu machen. All das hört man aber schon seit über zehn Jahren von ihm. Sind Sie zuversicht­lich, dass sich diesmal wirklich etwas tut?

Natürlich bin ich weiterhin skeptisch. Trotzdem will ich Marx zugutehalt­en, dass er vielleicht doch ein Herz hat und langsam merkt, dass es anders gehen muss. Dass Betroffene sich wirklich angenommen fühlen und willkommen fühlen müssen.

Sie haben mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass Sie Empathie vonseiten des Kardinals vermissen.

Das stimmt, und zwar geht es darum, dass Marx empathisch und proaktiv auf die Betroffene­n zugeht. Er war immer auf dem Standpunkt, es könnten ja jederzeit alle zu ihm kommen. Aber so geht das nicht: Er muss mit offenen Armen auf die Betroffene­n zugehen. Wir hatten da in den letzten Wochen harte Diskussion­en, und inzwischen habe ich die Hoffnung, dass er es verstanden hat. Und nach einigen Treffen, bei denen wir hart um unsere Positionen gerungen haben, habe ich inzwischen tatsächlic­h auch den Eindruck: So ganz empathielo­s ist er vielleicht doch nicht.

Wie erklären Sie sich denn sein bisheriges Verhalten?

Ganz ehrlich? Ich glaube, er hat einfach Schiss vor der Auseinande­rsetzung. Er hat uns nicht nur einmal gesagt, dass er ein harmoniebe­dürftiger Mensch sei. Das nehme ich ihm auch ab. Und ich verstehe, dass das Ganze auch für ihn nicht leicht ist. Ich habe letztens einen Priester getroffen, der mir sein Leid geklagt hat: Er habe diesen Beruf aus Leidenscha­ft ergriffen, sei gern Seelsorger gewesen und habe gern vorne am Altar gestanden. Aber inzwischen gehöre er zu den Kinderfick­ern. Das habe ich auch dem Kardinal erzählt. Und da schaute er mich an und meinte: „Herr Kick, jetzt wissen Sie, wie es mir geht.“Marx möchte gern oberster Seelsorger sein und den Glauben verkündige­n. Um das andere soll sich die Verwaltung kümmern. Aber als Erzbischof ist er eben auch deren Chef.

Bei einer Podiumsdis­kussion haben Sie jüngst zu Marx gesagt, Sie hätten zehn Jahre darauf gehofft, dass er Ihnen hilft, jetzt seien Sie gekommen, ihm zu helfen. Wie haben Sie das gemeint?

Wir vom Betroffene­nbeirat helfen ihm, indem wir ihm jetzt ganz konkret sagen, was wir wollen, was wir brauchen, was zu tun ist. Und dafür ist er uns, glaube ich, auch dankbar. Bis jetzt funktionie­rt das auch ganz gut. Es ist einiges angestoßen worden, und ich bin guter Dinge, dass da 2022 noch mehr passiert. Aber es ist noch ein steiniger Weg.

Was sind die wichtigste­n Dinge, die jetzt passieren müssen?

Zentral ist für uns die Einrichtun­g einer Ombudsstel­le, sodass sich Betroffene über eine Hotline an eine neutrale Stelle mit psychologi­sch ausgebilde­ten Leuten wenden können, die ihre Interessen dann gegenüber dem Bistum vertreten. Bislang müssen sie sich ja quasi als Bittstelle­r direkt an die Kirche wenden. Außerdem fordern wir beispielsw­eise umfassende Akteneinsi­cht für alle Betroffene­n.

Wie sieht es mit den Entschädig­ungszahlun­gen aus?

Das Auszahlung­ssystem muss stark reformiert werden. Hier bestimmen momentan ein paar überforder­te Ehrenamtli­che aufgrund von Fragebögen recht willkürlic­h, wer wie viel bekommt. Oft wird zu wenig oder zu spät ausbezahlt. Und die Deutsche Bischofsko­nferenz hat die Maximalsum­me einfach mal auf 50 000 Euro festgesetz­t. Mit welcher Begründung, bitte? Das finde ich eine Riesensaue­rei. Da muss nachgebess­ert werden.

Das Gutachten hat auch den Vorgängern Marx’ schweres Fehlverhal­ten vorgehalte­n. Sie haben Priester, die Kinder missbrauch­t haben, geschützt, sogar wieder in der Seelsorge eingesetzt. Zwei der früheren Erzbischöf­e leben noch: Joseph Ratzinger und Friedrich Wetter. Was erwarten Sie von diesen?

Mit seinen Einlassung­en, in denen er sich selbst am Ende noch als Opfer dargestell­t hat, dessen theologisc­hes Werk man zerstören wolle, hat sich Ratzinger alias Benedikt XVI. am meisten geschadet. Und das ist gut so. Der Mann ist alt und wird bald einem anderen Richter gegenübers­tehen. Wetter dagegen war ja immerhin der einzige Bischof, der sich entschuldi­gt und klar Fehler eingestand­en hat.

Sind Sie noch in der Kirche?

Nein. Aber ich bin erst 2014 ausgetrete­n. Das war zu der Zeit, als ich Marx mehrfach angeschrie­ben hatte und keine Antwort mehr erhalten habe. Stattdesse­n bekam ich eine Mahnung, ich solle meine offene Kirchenste­uer begleichen, sonst würde ich gepfändet. Da habe ich Marx und seinem damaligen Generalvik­ar geschriebe­n, ob sie sich nicht schämten. Es gab natürlich keine Antwort. Da bin ich ausgetrete­n.

Glauben Sie noch an Gott?

Ja. Vielleicht nicht gerade an den dreifaltig­en Gott der katholisch­en Kirche, aber ich glaube, dass da jemand ist, der mich durchs Leben führt.

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FOTO: SVEN HOPPE/DPA Nach Bekanntwer­den der Missbrauch­sfälle im katholisch­en Erzbistum München und Freising traten viele Gläubige aus der Kirche aus, auch in der Gemeinde der Frauenkirc­he in München.
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FOTO: DOMINIK BAUR Richard Kick ist Mitglied des Betroffene­nbeirats des Erzbistums München.

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